Tedescos vorläufiges Meisterstück
27. November 2017Auf Domenico Tedesco werden seit dem historischen 4:4 im Derby bei Borussia Dortmund Lobeshymnen gesungen. Zurecht, denn der zweitjüngste Trainer der Bundesliga reagierte auf die "Hölle" mit strategischer Intelligenz. Nachdem die Schalker zur Halbzeit scheinbar aussichtslos mit 0:4 zurücklagen, stellte er sein Team zunächst um und zeigte ihm dann trotz der katastrophalen Lage einen Weg des "Gewinnens" auf. Belohnt wurden sein Mut und sein psychologischer Schachzug mit der spektakulärsten Halbzeit der jüngeren Schalker Geschichte und einem gefühlten Derby-Sieg.
Korrektur des eigenen Kurses
Der 32-Jährige erkannte nach dem Horrorstart in seinem ersten Revierderby, dass seine Marschroute nicht aufging. Schlimmer noch: Sie ging fatal nach hinten los. Doch statt stoisch bei seinen Vorgaben zu bleiben, bewies Tedesco im Angesicht der Demütigung die Bereitschaft, sich zu hinterfragen und seinen Plan und die Zielvorgabe radikal zu ändern.
"Ich wusste, dass uns so eine Geschichte charakterlich und mental nach vorne bringen kann", erklärte Tedesco nach dem Spiel. Ihm ging es zu diesem Zeitpunkt nicht primär darum, Maßnahmen zu ergreifen, um ein Wunder zu erzwingen - auch, wenn er das ironischerweise schaffte. Tedesco wollte - wenn schon keine Punkte - wenigstens etwas anderes Verwertbares mitnehmen. Er reagierte zunächst mit Umstellungen, nahm den Gelb-Rot gefährdeten Weston McKennie und Franco di Santo vom Platz und brachte dafür den wiedergenesenen Chefantreiber Leon Goretzka sowie den jungen Amine Harit, der mit seiner Glanzleistung und dem Tor zum 2:4 in der zweiten Halbzeit großen Anteil am Derbywunder hatte.
Der 2. Halbzeit eine neue Story gegeben
Tedesco wollte verhindern, dass das Spiel seine Mannschaft mental nachhaltig aus der Bahn wirft. Das Ergebnis spielte in diesem Moment längst keine Rolle mehr. "Ich habe ja selber nicht mehr dran geglaubt", gab er nach dem Spiel zu. Und doch gab er seinem Team eine neue Mission, schrieb die Story des Spiels in den Köpfen seiner Spieler einfach um.
Der Trainer ist nicht nur für die Resultate, sondern auch für den Zustand und das Befinden der Mannschaft verantwortlich. Tedeco dachte daher über das Spiel hinaus und überlegte sich, was seine Mannschaft in dieser bis dahin schmachvollen Partie noch "gewinnen" könne. Die simple Antwort: den Rest des Spiels. "Lasst uns die zweite Halbzeit gewinnen", gab er seiner Truppe mit auf den Weg.
Dem Kniefall folgt das Spektakel
Als dramaturgisches Element versah er diese Botschaft noch mit dem Niederknien vor seinem Team, wie Keeper Ralf Fährmann am Abend im Aktuellen Sportstudio berichtete. "Er hat uns enger zusammengerufen. Dann ist er auf die Knie vor uns gegangen und hat gesagt, dass wir aus dem Spiel jetzt schon lernen müssen. Und die zweite Halbzeit als neues Spiel sehen sollen."
Tedesco hat damit ein psychologisches Meisterstück vollbracht. Die Spieler taten ihm nicht einfach einen Gefallen, in dem sie sich zusammenrissen oder mehr Meter machten. Die Spieler taten das, was Tedesco vorgab, und das war keine Ergebnis-Korrektur oder der Versuch das Gesicht zu wahren. Sie gewannen die zweite Hälfte.
Die Schalker Spieler vertrauen ihrem Trainer zu hundert Prozent. Sie vertrauten ihm auch zu Beginn des Spiels und liefen damit unglücklich ins offene Messer, denn Tedesco lag mit seiner Ausrichtung zu Beginn falsch. Abgehakt, neu gedacht. Der Trainer setzte unglaubliche Kräfte im Team frei, erweckte seine tote Truppe zum Leben. Das Team war anschließend 45 Minuten lang Tedescos Golem auf dem Rasen des Erzfeindes.
Emotionen nach Abpfiff
Nach dem 2:4 muss der junge Trainer bereits geahnt haben, dass das Unmögliche noch möglich sein könnte. Voller Leidenschaft und Engagement coachte er sein Team an der Seitenlinie und hielt so den Glauben an die eigene Stärke und das Schalker Himmelfahrtskommando am Leben. Er peitschte seine Mannen aber nicht wild nach vorne, wie es ein Diego Simeone bei Atletico Madrid seit Jahren tut, sondern hielt die taktische Führung fest in den Händen. Tedesco war an diesem denkwürdigen Nachmittag in Dortmund die perfekte Mischung aus Motivator und taktischem Kopf der Mannschaft. Sowohl "Emotionsbolzen" Simeone als auch "Taktikfuchs" Pep Guardiola hätten ihre Freude an dem Trainer gehabt, dem auch schon vorher ein großes Talent attestiert wurde.
Eindrucksvoller hätte Tedesco dieses Talent nicht beweisen können. Vielleicht ist es sogar schon Zeit, den Begriff des Trainer-Talents zu begraben. Die nächsten Wochen werden das zeigen. Wer der Vater dieser wunderbaren Schalker Auferstehung ist, zeigten Tedescos Spieler nach dem Abpfiff. Emotional und wild feierten sie den Trainer, der kaum älter ist als einige von Ihnen. Auch Tedesco selbst fegte im Simeone-Stil laut brüllend durch die Reihen seiner Mannschaft, das Dortmunder Stadion gehörte für einen Augenblick den Königsblauen und damit vor allem dem Mann, der das "Derbywunder" erst möglich gemacht hatte.