Technologie im Alter
23. Mai 2016Vor ein paar Monaten kippte meine Oma einfach um. Ein echter Schock, denn eigentlich ist sie auch mit 85 Jahren noch recht rüstig. Sie hatte gerade ein paar Gelenkübungen im Reha-Zentrum gemacht, das praktischerweise nur ein paar Stockwerke unter ihrer Zweizimmerwohnung liegt. Bei dem Sturz zog sie sich eine riesige Platzwunde zu, Umstehende besorgten sofort den Krankenwagen. Doch wer hätte sie bemerkt, wenn sie in ihren eigenen vier Wänden das Bewusstsein verloren hätte?
In einem solchen Fall kann Technik Leben retten. Seit dem Unfall trägt meine Großmutter einen Notrufknopf am linken Handgelenk. Das Spektrum technologischer Entwicklungen, die Senioren im Alltag unterstützen, ist groß: von Bewegungssensoren, die die Abweichung der Norm im eigenen Heim melden, über intelligente Medikamentenschachteln zur Erinnerung an die Tabletteneinnahme bis hin zur Toilette, die den Urin testet.
Kein Wunder, denn die Zielgruppe wächst stetig. Im Jahr 2060 wird ein gutes Drittel der deutschen Bevölkerung 65 oder älter sein. In 15 Jahren wird diese Altersgruppe bereits drei Millionen mehr Wohnungen und Häuser beanspruchen. Denn der Großteil möchte vor allem eines: im Alter zu Hause wohnen bleiben, auch allein.
Ängste überwinden
Durch technische Innovationen kann der Eintritt ins Pflegeheim möglichst lange hinausgezögert oder sogar ganz vermieden werden. Doch es gibt ein entscheidendes Problem: "Gerade die ältere Generation hat eine gewisse Scheu vor der Technik", sagt Ursula Lehr, ehemalige Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und bis 2015 Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO). "Beide Seiten müssen lernen: Die Produktentwickler müssen verstehen, was Schwierigkeiten bereiten könnte, und der ältere Mensch muss lernen, mit diesen Geräten umzugehen."
Neben Sprechanlagen, die an offen gelassene Fenster erinnern, oder Lichtsignale beim Überhören der Türklingel, sind automatisierte Notrufsysteme wohl das gefragteste Konzept des Bereichs "Ambient Assisted Living" (AAL), also dem selbstbestimmten Leben durch innovative Technik. Automatisierte Systeme bieten gegenüber Notrufknöpfen den Vorteil, dass sie - auch ohne dauerhaftes Tragen - Verwandte, Nachbarn oder Notfalldienste bei einem Vorfall alarmieren. Wer jetzt Angst vor einer konstanten Überwachung hat, kann aufatmen. "Es gehen nur Statusinformationen wie Rot, Gelb, Grün an die Kontaktpersonen raus. Die Verwandten können diese dann beispielsweise über eine App abrufen", sagt Prof. Dr. Daniel Bieber, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e.V. in Saarbrücken.
Noch beteiligen sich die Krankenkassen nicht. Für etwa 1500 Euro kann die eigene Wohnung mit Bewegungssensoren ausgestattet werden. Das sei um einiges günstiger als noch vor ein paar Jahren, da diese mittlerweile mit Batterien laufen. "Erst jetzt wird es preiswerter, da Sensorik insgesamt günstiger wird", sagt Bieber.
Stigmatisierung bei der Vermarktung
Die Antwort auf die Frage, warum sich nur so wenige Menschen mit AAL-Produkten beschäftigen, könnte mit der unattraktiven Vermarktung zusammenhängen. "Das Problem ist, dass man unter Stigmatisierungsgesichtspunkten vermarktet", meint Bieber. Es würde der Eindruck entstehen, dass die Defizite des Kunden kompensiert werden müssen. "Das kommt nicht gut an." Die Branche solle sich ein Beispiel an Automobilherstellern nehmen. Diese würden ihre Assistenzsysteme unter den richtigen Aspekten vermarkten: erhöhter Komfort und mehr Sicherheit.
Schlecht beraten
Zudem gibt es zu wenige Beratungsstellen, sagt Bieber. "Das Forschungsministerium hat ein oder zwei Jahre lang 40 Regionen darin unterstützt, sogenannte Seniorenberater auszubilden und beraten zu lassen. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein."
Älteren Menschen kann nur geraten werden, sich selbst im Netz oder mit Hilfe von Verwandten zu informieren. Experten sind sicher, dass der Markt für AAL-Produkte jetzt erst richtig in Gang kommt. In den kommenden Jahren werden die Baby-Boomer das gesetzliche Rentenalter erreichen. Diese Generation hat eine höhere Technikaffinität und wird zunehmend solche Leistungen in Anspruch nehmen.
Schon jetzt beschäftigen sich Forschung, Entwicklung, Handwerk, Industrie, Pflegedienste und Architekten mit technischen Innovationen für Senioren. Möglicherweise wird bald auch unser Gesundheitssystem mehr in solche Lösungen investieren. Zum Beispiel wenn bewiesen ist, dass diese nicht nur Sicherheit bieten, sondern den Krankenkassen bei der Versorgung der Patienten auch Geld einsparen.