Tausende Ungarn stemmen sich gegen "Sklavengesetz"
22. Dezember 2018Ungarns Premier betont gern und oft, dass seine Regierung auf die Stimme des Volkes höre und den Willen der Menschen im Land respektiere. Doch derzeit hat Viktor Orbán die Mehrheit des Volkes gegen sich: Seit zwei Wochen protestieren tausende Ungarn gegen das so genannte "Sklavengesetz" zur Anhebung der Überstundenzahl. Auch am Freitag gingen im Land wieder tausende Menschen auf die Straße– in Budapest waren es nach Angaben unabhängiger Medien rund 5000, auch in einigen Provinzstädten fanden kleinere Kundgebungen statt. Laut einer aktuellen Umfrage des Budapester Meinungsforschungsinstitutes Publicus sympathisieren 66 Prozent der Ungarn mit den Demonstranten, eine ebenso große Mehrheit lehnt die Bestimmungen des "Sklavengesetzes" ab.
Breiter Widerstand - zynische Reaktionen
Mit der Neuregelung wird die Anzahl der jährlich möglichen Überstunden von Arbeitnehmern in Ungarn von 250 auf 400 angehoben, während sich die Arbeitgeber mit deren Ausbezahlung bis zu drei Jahre Zeit lassen können. Die Gesetzesnovelle war in der letzten Woche gegen den massiven Widerstand von Gewerkschaften, Oppositionsparteien und zivilen Organisationen verabschiedet worden. Ungarns Staatspräsident János Áder hatte das Gesetz am Donnerstag dennoch unterschrieben und in einer Erklärung dazu den ungarischen Bürgern am Ende ein frohes Weihnachtsfest "im Kreise der Familie und von Freunden" gewünscht – was Kommentatoren
verbreitet als zynisch empfanden.
Ungarns Premier Orbán wiederum äußerte sich gestern erstmals über die Demonstranten – in recht abfälliger Weise: In seinem wöchentlichen Interview im Kossuth-Radio sagte der Premier, der Protest sei ein "hysterisches Herumgekreische". Orbán wiederholte auch den Vorwurf, den vor ihm andere Spitzenpolitiker erhoben hatten: dass hinter den Protesten und ihrer Finanzierung auch der US-Börsenmilliardär George Soros stünde.
Das "Jahr des Widerstandes" kommt
Präsident János Áders Unterschrift und Orbáns Bemerkungen dürften die Proteste eher noch angeheizt haben. In Budapest zogen an diesem Freitag Abend trotz äußerst ungemütlichen nasskalten Wetters Tausende vom Parlamentsplatz über die Kettenbrücke an der Donau zum Palais des Staatspräsidenten auf der Budaer Seite.
Eine Aktivistin der außerparlamentarischen liberalen Momentum-Bewegung, Anna Donáth, rief das Jahr 2019 zum "Jahr des Widerstandes" gegen Orbáns Ordnung aus. Donáth war letzte Woche zu einem der Gesichter der Proteste geworden, weil sie von Polizisten in brutaler Weise verhaftet und über Stunden ohne Erklärung in einem Untersuchungsgefängnis festgehalten worden war. "Seid wütend und laut, ihr habt ein Recht dazu", rief die 31-jährige Soziologin den Demonstranten zu. Ein Vertreter der Pädagogengewerkschaft gab für die kommenden Wochen die Losung aus: "Das Land soll stillstehen!" Ungarns Gewerkschaftsverbände wollen nach den Feiertagen landesweite Streiks vorbereiten.
Es wäre das erste Mal überhaupt seit Orbáns Machtantritt 2010, wenn es zu solchen Streikaktionen käme. So wie es auch das erste Mal überhaupt seit 2010 ist, dass bei den Protesten – mit Ausnahme nur von vier rechtsextremen Abgeordneten – alle parlamentarischen Oppositionsparteien vertreten sind, einschließlich der ultrarechten Jobbik-Partei. Auch mehrere prominente Kirchenoberhäupter solidarisieren sich mit den Protesten, darunter Tamás Fabiny, der leitende Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Ungarn, und Miklós Beer, römisch-katholischer Bischof in der nordungarischen Stadt Vác. Beide äußerten in Interviews mit ungarischen Medien in den letzten Tagen scharfe Kritik an der konfrontativen Politik der Orbán-Regierung. Zudem verkündeten auch mehrere oppositionell geführte Stadtparlamente, darunter in der südungarischen Großstadt Szeged und im nordostungarischen Salgótarján, dass sie die neue Überstundenregelung nicht anwenden würden.
Orbáns Härte hat einigende Wirkung
Die bisher nicht dagewesene Einheit von parlamentarischer Opposition, Gewerkschaften, Zivilorganisationen, Kirche und oppositionell geführten Lokalverwaltungen könnte Orbán durchaus gefährlich werden – denn Ungarns Premier lässt keinerlei Anzeichen von Kompromiss- oder Verhandlungsbereitschaft erkennen. Das schweißt die Opposition damit nach Ansicht vieler Beobachter erst recht zusammen.
Dabei hat die Neuregelung zu Überstunden auch einen für die Orbán-Regierung wichtigen Hintergrund – mit einem deutschem Bezug: In Ungarn herrscht gravierender Arbeitskräftemangel, in den letzten Jahren sind rund 600.000 oft gut ausgebildete Menschen abgewandert. Zugleich ist Ungarn einer der wichtigsten europäischen Auslandsstandorte der deutschen Industrie und vor allem der Autobauer Audi, BMW, Mercedes und Opel. Mit der neuen Überstundenregelung will die Orbán-Regierung den Arbeitskräftemangel abmildern.
Deutsche Fremdsteuerung?
Oppositionsvertreter werfen der Regierung nun vor, sie habe das "Sklavengesetz" im Auftrag der deutschen Industrie verabschiedet und berufen sich unter anderem auf eine Äußerung des Außenministers Péter Szijjártó Ende November bei einem Besuch in Düsseldorf, der zufolge deutsche Firmen in Ungarn Gesetzesänderungen für mehr Flexibilität begrüßen würden. Ein Audi-Sprecher sagte in diesem Zusammenhang zur Deutschen Welle, man gebe generell keine Kommentare zu politischen Angelegenheiten ab. Der Sprecher der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer, Dirk Wölfer, sagte der Deutschen Welle, man habe "keine Kenntnis" davon, dass die neue Arbeitszeitregelung auf Geheiß oder Bestellung deutscher Unternehmen verabschiedet wurde.
In Berlin demonstrierten am Freitag dennoch einige Dutzend Aktivisten der Initiative "Freie Ungarischen Botschaft" vor dem Gebäude der Industrie- und Handelskammer. Ihre Forderung: "Deutsche Unternehmen in Ungarn sollen sagen, was ihnen wichtiger ist: die Geschäftemacherei mit dem Orbán-Regime oder europäische Werte und der Schutz der Arbeitnehmerrechte."