Tausende Fälle von Missbrauch in der evangelischen Kirche
25. Januar 2024"Es ist ein rabenschwarzer Tag für die Evangelische Kirche in Deutschland", sagt Detlev Zander. "Eigentlich sollten heute alle Kirchenglocken läuten und die Fahnen auf Halbmast wehen." Zander ist heute Anfang 60 und war als Kind Opfer von sexualisierter Gewalt in kirchlichen Einrichtungen. Er spricht als zweiter nach der amtierenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs. Und er unterstreicht: "Für die Betroffenen ist es ein guter Tag."
Es ist ein dramatischer Tag für die evangelische Kirche: Forscher belegen, dass es bei ihr Missbrauch in vergleichbarem Umfang wie in der katholischen Kirche in Deutschland gab - und dass der Wille zur Aufarbeitung mitunter noch fehlt.
Zander, der als Kind über viele Jahre in einem kirchlichen Heim sexualisierte Gewalt erlebte und sein Schicksal seit knapp zehn Jahren öffentlich thematisiert, bringt den Ernst, das Schreckliche bei der Vorstellung der ersten bundesweiten Studie zu "sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland" zum Ausdruck. Er sagt: "Fangt endlich an! Nehmt die Betroffenen ernst! Behandelt sie nicht im Nachhinein immer noch wie Opfer." Es wirkt wie eine Anklage.
"Die Spitze des Eisbergs"
Der rund 870 Seiten umfassende Bericht belegt mindestens 2225 Betroffene und 1259 mutmaßliche Täter für die vergangenen Jahrzehnte. Doch sei diese Zahl nur "die Spitze der Spitze des Eisbergs", sagt Martin Wazlawik, Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover und Leiter des bundesweiten Forschungverbunds zum Thema.
Die Wissenschaftler wagen in der Studie selbst eine Hochrechnung und schätzen die Zahl der Opfer über die Jahrzehnte auf 9355 Minderjährige, die der Beschuldigten auf rund 3500. Gut ein Drittel der Täter seien Pastoren oder andere Geistliche. Straftaten ereigneten sich, so die Studie, in allen Bereichen der evangelischen Kirche, in Kinderheimen genauso wie in Einrichtungen der Diakonie wie in Gemeinden.
Die Ausführungen von Wazlawik wurden zum harten Urteil über die evangelische Praxis und auch über Wesenszüge evangelischer Verantwortungsträger. Er beklagte "institutionelle Trägheit" und die "Pathologisierung von Betroffenen", "Verantwortungsdiffusion und -delegation" sei ein institutionelles Phänomen der evangelischen Kirche. Eigentlich heißt das: Niemand ist schuld - und wenn, dann immer ein anderer. Zum Selbstbild einer "besseren Kirche", so Wazlawik, gehörten eine "idealisierende Selbstbetrachtung" und als "strukturell evangelisches Merkmal" Harmoniezwang und Konfliktunfähigkeit im "Milieu der Geschwisterlichkeit".
So wird - das lässt sich sagen - mit diesem Tag die evangelische Kirche in Deutschland nicht mehr die gleiche sein wie zuvor. Über viele Jahre blieb sie im Schatten der gewaltigen Problemlage der katholischen Kirche, deren Missbrauchsskandal 2010 aufbrach und die dann von 2014 bis 2018 durch Wissenschaftler eine bundesweite Untersuchung erarbeiten ließ. Und gut drei Jahre vor der evangelischen Seite, die erst im Dezember 2023 folgte, vereinbarte die katholische Kirche mit der in Berlin angesiedelten Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) einheitliche Standards bei der Aufarbeitung.
Lange konnte man von evangelischen Beobachtern hören, dass die katholische Kirche mit ihrer Verpflichtung zur sexuellen Enthaltsamkeit der Priester und ihrer strengen Sexualmoral zum Beispiel beim Thema Homosexualität ganz eigene Problemlagen habe.
Rücktritte - von Frauen
Dabei ist es bezeichnend, dass spektakuläre Rücktritte von kirchlichen Verantwortungsträgern von zwei leitenden und prominenten weiblichen Repräsentanten der evangelischen Kirche kamen. 2010 trat in Hamburg Maria Jepsen zurück, seit 1992 die weltweit erste lutherische Bischöfin. Sie hatte wohl frühzeitig von sexualisierter Gewalt eines Pastors gewusst, aber nichts unternommen.
Und im Herbst 2023, vor wenigen Monaten, gab die westfälische Präses und damalige EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus ihr Amt auf. Ihr wurde schlussendlich nicht Mitwisserschaft oder Vertuschung, sondern schlechtes Krisenmanagement vorgeworfen. Fast wirkt es so, als ob männliche kirchliche Amtsträger größere Beharrungskräfte haben. Erst zum Ende der zweistündigen Vorstellung der EKD-Studie wurde ein Name ausdrücklich genannt: Heinrich Bedford-Strohm, bis 2021 EKD-Chef, habe das Thema Missbrauch letztlich erst Wochen vor dem Ende seiner Amtszeit offensiv angesprochen. Er solle sich nun äußern.
Zunächst will die EKD laut Fehrs die Ergebnisse der Studie in verschiedenen Gremien diskutieren, aber mit der Frage möglicher Konsequenzen nicht bis zur nächsten Synode im Herbst warten. Während der Präsentation wandte sich die Ratsvorsitzende gegen den Vorwurf, die 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland hätten durch die Nicht-Bereitstellung von Personalakten die Studie "bewusst" erschwert und so genauere Zahlen unmöglich gemacht. Fehrs sprach von einem "unglücklichen Nicht-Können" auf Seiten der zuständigen Stellen.
Kritik an der Struktur
Dem widersprach auf offener Bühne Harald Dreßing. Er ist einer der angesehensten forensischen Psychiater in Deutschland und war an der Studie beteiligt. Die katholische Kirche habe für ihre Studie die Personalakten von 38.000 Mitarbeitern zugänglich gemacht einschließlich der jeweiligen "Versetzungshistorie", die Rückschlüsse auf Vertuschung zulässt. "Diese Zahlen haben wir hier nicht", so Dreßing. So nannte Betroffenen-Vertreter Zander die föderale Struktur der EKD mit weithin unabhängigen Landeskirchen einen "Grundpfeiler für sexualisierte Gewalt".
Zu den eindrücklichsten Momenten der Vorstellung der Studie gehörten die Beiträge von Betroffenen. Die katholische Kirche hatte - anders als nun die EKD - bei der Vorstellung ihrer Studie 2018 niemanden eingebunden, der Gewalt selbst erlebt hatte. Neben Detlev Zander war das in Hannover vor allem Katharina Kracht, die, wie sie berichtete, als Jugendliche von einem Pfarrer missbraucht wurde. Ihr Täter - das brachte sie später selbst in Erfahrung - war "Serientäter" mit zwölf oder mehr Opfern.
Mit immer wieder brechender Stimme mahnte Kracht, nicht auf Zahlen und Strukturen, sondern auf die Betroffenen zu schauen, auf die Frage von Begleitung und Entschädigungen. "Ich höre leider hier wieder, dass es bei schönen Worten bleibt." Die Kirche, sagt sie, "ist für die Betroffenen kein Gegenüber".