Tanz der Hoffnung in Lima
5. April 2019Wer in der prallen Mittagssonne von Lima den venezolanischen Hip-Hop-Tänzern bei ihren Moves auf der Plaza San Martín zuschaut und dann mit ihnen spricht, lernt eins ziemlich schnell: Es hilft, dorthin auszuwandern, wo es schon ein Netzwerk gibt. Eine Gruppe gibt Halt auch in schlechten Zeiten und Sport ist eines der besten Mittel, den Stress der Flucht abzubauen. Oder wie Francisco Díaz es ausdrückt: "Wenn ich tanze, kann ich abschalten und vergesse alle meine Probleme. Ich fühle, wie die Energie durch meinen Körper strömt und bin einfach gut drauf."
"Inyectando Kultura" steht auf dem schwarzen T-Shirt von Francisco und den anderen Tänzern, Kultur soll injiziert werden - ein Projekt, das der 31-jährige frühere Tanzlehrer schon vor zehn Jahren in Venezuela ins Leben gerufen hat, um die Hip-Hop-Kultur zu verbreiten. "In Lateinamerika hat dieser Tanz ein sehr schlechtes Image. Und wir wollen zeigen, dass es etwas Positives ist".
Stimmung in Peru ist gekippt
In Venezuela ging es darum, durch Hip-Hop von Drogen loszukommen und mit Optimismus nach vorne schauen zu können. Jetzt, in Peru, ist es noch mehr als das. "Inyectando Kultura" hat die venezolanischen Flüchtlinge in Lima wieder zusammengeführt, war Anlaufpunkt für die Tänzer, die nicht wussten, wo sie nach ihrer Flucht aus Venezuela hin sollten.
Francisco Díaz kam 2017 als erster der Gruppe nach Peru. Springen die Ampeln auf Rot, fängt er an zu tanzen, in der Hoffnung auf ein paar Soles, die peruanische Währung. "Damals war die Stimmung noch eine ganz andere: Die Menschen haben dich gefragt, wie du heißt, sie haben dich die ganze Zeit motiviert und dir Mut gemacht, dass wir das schaffen", erinnert sich Díaz.
Heute, mit hunderttausenden Venezolanern in Lima, sei das anders. "Die Stimmung ist gekippt. Wir werden oft böse angeschaut und müssen uns viele blöde Sprüche anhören. Es ist jetzt auch schwerer, über die Runden zu kommen, weil wir an den Ampeln nicht mehr so viel Geld wie früher zugesteckt bekommen." Díaz hat seine Frau und seinen kleinen Sohn aus Venezuela nachgeholt; sie tanzen oft zu dritt an den Kreuzungen der peruanischen Hauptstadt.
Rückkehr? Vorerst kein Thema
Auch Miguel Flores hat in Venezuela bei "Inyectando Kultura" mitgemacht, auch der 28-Jährige war in Venezuela Tanzlehrer. Ende 2018 ist er dem Ruf seines Kumpels Francisco gefolgt. Ein Überfall in der Heimat brachte bei Flores das Fass zum Überlaufen. "Als ich aus der Uni kam, haben sie versucht, mein Handy zu klauen. Weil ich mich gewehrt habe, haben sie auf mich geschossen. Das war der Moment, wo ich gesagt habe, jetzt reicht es."
Mittlerweile sind sie mit "Inyectando Kultura" zu zehnt in Lima. Sie wohnen zusammen, helfen sich untereinander und treten auch schon mal als Gruppe auf Plätzen auf. Alle paar Wochen schicken sie Geld nach Hause zu ihren Familien. "Meine Mutter schreibt mir jeden Tag, dass ich nach Venezuela zurückkehren soll," erzählt Miguel Flores, "und ich antworte dann: 'Gut, ich komme zurück, und dann? Wovon soll ich leben, was soll ich essen?‘"
Vom Land der Emigration zum Land der Immigration
Federico Agusti war jahrelang für die Einwanderungsbehörde in Argentinien tätig, seit einigen Wochen ist er Leiter des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR in Lima. Der Jurist sagt, Peru habe sich innerhalb kürzester Zeit von einem Land der Emigranten in ein Land der Immigranten verwandelt. "Und es gab überhaupt keine Institutionen hier, die Erfahrung mit dem Thema Flucht hatten," so Agusti.
715.000 Venezolaner leben mittlerweile in Peru, das Land ist damit nach Kolumbien Ziel Nummer zwei für die Flüchtlinge. Agusti hat eine einfache Begründung dafür: "Peru ist beim Thema Flüchtlinge sehr generös und hat immer noch eine Politik der offenen Türen."
Zwar sei es beispielsweise in Argentinien oder Uruguay noch einfacher, an eine Aufenthaltserlaubnis zu kommen, erläutert Agusti, "doch viele Venezolaner schrecken davor zurück, weil es weit und teuer bis dahin ist. Da bleiben sie lieber in Peru, das relativ nah an ihrer Heimat liegt."
Agusti arbeitet mit den peruanischen Behörden daran, den Venezolanern in Peru eine Perspektive zu bieten. Das ist nicht einfach: "Zwei von drei Peruanern arbeiten im informellen Sektor. Und jetzt kommen Hunderttausende Venezolaner dazu, von denen auch fast alle im informellen Sektor gearbeitet haben."
Der tägliche Kampf gegen Vorurteile
Federico Agusti ist davon überzeugt, dass Peru mittel- und langfristig von den venezolanischen Flüchtlingen profitiert. Nun gehe es aber erst einmal darum, den Peruanern zu erklären, dass die Integration der Venezolaner ihnen viel abverlangen wird: "Wenn ich beim Arzt viel länger auf einen Termin warten muss, wenn ich mein Kind nur bei einer Schule anmelden kann, die weit entfernt ist oder wenn ich mir wegen der Konkurrenz plötzlich Sorgen um meinen Arbeitsplatz machen muss."
Mit Informationsbroschüren versucht das Flüchtlingshilfswerk, aufkommende Diskriminierung schon im Keim zu ersticken. 'Glaub‘ nicht alles, was Du hörst', heißt der Flyer, in dem Vorurteile entkräftet werden. Kleine Projekte für eine großes Ziel, erklärt Augusti: "Die Flucht aus Venezuela ist schlicht und ergreifend der größte Exodus von Menschen in der Geschichte Südamerikas."
Ansturm auf den "PTP"
Peru hat auf diese Herausforderung sehr schnell reagiert. "PTP" , der "Permiso Temporal de Permanencia", ist eine Aufenthaltserlaubnis für venezolanische Flüchtlinge, die ein Jahr gültig ist. Fragt man Roxana Del Águila, die Leiterin der peruanischen Einwanderungsbehörde in Lima, welche Note sie ihrer Behörde für die Immigration der Venezolaner geben würde, antwortet sie stolz: "In Sachen Kreativität die Bestnote. Der 'PTP' war unsere Idee, wir waren die ersten in Südamerika."
495.000 Venezolaner haben den "Permiso Temporal de Permanencia" beantragt. Damit können sie arbeiten und ein Gewerbe eröffnen, haben Zugang zum Gesundheitssystem und dürfen ein Bankkonto eröffnen. Voraussetzung: Die Flüchtlinge müssen legal vor dem 31.Oktober 2018 eingewandert sein.
Peru will venezolanische Fachkräfte anwerben
"Die Hälfte der Antragsteller haben schon einen PTP-Ausweis bekommen", erklärt Del Águila. Wer nach dem 31.Oktober eingereist ist, bekommt zwar keinen "Permiso Temporal de Permanencia", kann aber zumindest einen Antrag auf Asyl stellen. Bei der Einwanderungsbehörde liegen jetzt schon 167.000 Asylanträge. Wer einen positiven Asylbescheid bekommt, darf in Peru arbeiten. In keinem anderen Land wurden mehr Asylanträge von Venezolanern gestellt.
Früher hatte die Einwanderungsbehörde 400 Asylanträge im Jahr zu bearbeiten; jetzt ist es 400 pro Tag. Del Águila will daraus Nutzen ziehen und Peru zu einem Anziehungspunkt für venezolanische Fachkräfte machen: "Wir wollen Ärzte, wir wollen Ingenieure, wir wollen Lehrer. Und wir wollen eben nicht, dass die venezolanischen Ärzte 'Arepas' (Fladenbrote) verkaufen!"
Falsche Vorstellungen in Venezuela
Zurück auf die Plaza San Martín. In Sichtweite der Hip-Hop-Tänzer befragt eine Mitarbeiterin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR zwei Jugendliche aus Venezuela, die gerade in Peru angekommen sind: Wo wohnt Ihr in Peru? Welchen Aufenthaltsstatus habt Ihr? Seid Ihr Opfer von Gewalt geworden? Die Vereinten Nationen wollen sich so einen besseren Überblick verschaffen, wo bei den Flüchtlingen der Schuh drückt.
Miguel Flores hat aus eigener Erfahrung einen guten Rat für all diejenigen, die überlegen, Venezuela zu verlassen: "Wenn Du die Möglichkeit hast, abzuhauen, dann mach es. Aber mach Dich darauf gefasst, dass es nicht einfach wird. Es ist okay hier in Peru, aber es ist hart." Viele seiner Freunde, die noch in Venezuela sind, würden ihn fragen, ob Lima eine gute Adresse für ein neues Leben sei. "Ich sage meinen Freunden immer: 'Es ist nicht, wonach es ausschaut. Wir müssen hier jeden Tag hart arbeiten.‘"
Strategie der Venezolaner gegen Rassismus
Und sie müssen mit dem steigenden Rassismus in Peru leben. Auf Youtube kursiert gerade ein Video mit zwei peruanischen Sängerinnen, die ihre Männer davor warnen, sich mit "Venecas" einzulassen, ein abwertender Begriff für die Venezolaner. Die Hip-Hop-Tänzer von "Inyectando Kultura" hören dieses Schimpfwort an den Ampeln von Lima täglich.
Ihre Antwort sei immer die gleiche, betont Miguel Flores: "Wenn uns jemand als 'Veneco' beschimpft, sagen wir ihm ganz ruhig, Entschuldigung, nicht 'Veneco' , Venezolaner. Und wir kontern auch nicht mit 'Perucho', dem Schimpfwort für die Peruaner. Das ist einfach eine Frage des Anstands und der Erziehung."
Diese Reportage entstand im Rahmen einer Recherchereise der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen in Kolumbien und Peru.