Taiwan wählt 2016 eine Präsidentin
19. Juli 2015Anders als in China wird in Taiwan Demokratie praktiziert. Obwohl Peking immer behauptet, dass Taiwan ein Teil des Territoriums der Volksrepublik China sei, wählen die Taiwaner bereits seit 1996 ihren eigenen Präsidenten. Im nächsten Jahr aller Wahrscheinlichkeit nach sogar eine Präsidentin.
Wahlkampf unter zwei Frauen
Taiwans Regierungspartei Kuomingtang (KMT) hat am Sonntag (19.07.) die 67-jährige Vizeparlamentspräsidentin Hung Hsiu-chu offiziell als ihre Präsidentenkandidatin aufgestellt. Ihre wichtigste Gegenkandidatin ist die 59-jährige Tsai Ing-wen, die Parteivorsitzende der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Damit tritt bei beiden großen Parteien zum ersten Mal in der Geschichte Taiwans eine Frau den Kampf um das Präsidentenamt an. Anderen möglichen Kandidaten, wie dem unabhängig antretenden Shih Ming-te oder der 77-jährigen Hsu Jung-shu von der Volkspartei rechnen Experten so gut wie keine Siegchancen zu.
Anders als Corazon C. Aquino oder Gloria Macapagal-Arroyo von den Philippinen, Yingluck Shinawatra aus Thailand, Park Geun-hye aus Südkorea oder Aung San Suu Kyi aus Myanmar stammen weder Tsai noch Hung aus einer Politikerfamilie. Weder ihre Väter noch ihre Ehemänner oder Brüder sind einflussreiche Politiker oder politische Dissidenten. Beide Kandiatinnen sind unverheiratet und ohne Kinder.
Wohlstand gegen Armut
Tsai von der oppositionellen DPP stammt aus einer wohlhabenden Geschäftsfamilie, hat in den USA und Großbritannien studiert. Nach ihrem Auslandsstudium war sie zuerst an einer Universität in Taiwan als Juraprofessorin tätig und hatte später mehrere Regierungsämter inne. 2010 nahm sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einer lokalen Wahl teil. 2012 stand sie als Gegenkandidatin dem amtierenden Präsidenten Ma Ying-jeou von der KMT gegenüber, scheiterte jedoch an Ma.
Hung Hsiu-chu von der Regierungspartei KMT stammt hingegen aus ärmlicheren Verhältnissen. Ihr Vater saß während der Zeit des Kriegsrechts, des sogenannten "Weißen Terrors", dreieinhalb Jahre im Gefängnis und konnte in den darauffolgenden 40 Jahren keine Arbeit mehr finden. Die ganze Familie lebte von dem schmalen Einkommen der Mutter, einer einfachen Arbeiterin. Hung arbeitete eine Zeitlang als Mittelschullehrerin, bevor sie 1990 Parlamentsabgeordnete wurde.
Intellekt gegen Temperament
Auch die Charakterzüge der beiden Politikerinnen unterscheiden sich. Tsai erweckt oft den Eindruck einer typischen Beamtin oder Akademikerin, wirkt stets höflich, analytisch und gibt sich wortkarg. Prof. Chen-Shen Yen von der Nationalen Chengchi-Universität bezeichnete sie aus Spaß als eine "weibliche Ma Ying-jeou". Zwischen Ma und Tsai gibt es viele Ähnlichkeiten: Sie kommen beide aus gutsituierten Familien, haben ähnliche berufliche Laufbahnen und akademische Hintergründe. Außerdem ähneln sie sich in ihrem Verhalten.
Hingegen spricht Hung scheinbar immer direkt aus, was sie denkt. Manchmal zu direkt, fast so, als ob sie keine Politikerin wäre. Hung ist dafür bekannt, dass sie laut spricht, lacht und schimpft. Nicht zuletzt in Taiwans Parlament, das für seine teilweisen körperlichen Auseinandersetzungen berüchtigt ist. In Taiwans Öffentlichkeit ist sie aufgrund ihres aufbrausenden Temperaments auch unter dem Spitznamen "kleine Chilischote" bekannt.
Für oder gegen China?
Gegenüber der Deutschen Welle sagt I-Chung Lai, Vizegeschäftsführer der taiwanischen Denkfabrik "Taiwan Thinktank", dass die Frage des Geschlechts der Präsidentenkadidaten nie ein Diskussionsthema bei Wahlkämpfen in Taiwan gewesen sei. Wichtiger sei dagegen die jeweilige Chinapolitik. China schließt bis heute ein militärisches Eingreifen nicht aus, sollte Taiwan sich offiziell für unabhängig erklären. Diejenigen Wahlkandidaten, deren China-Politik Frieden und Stabilität in der Taiwanstraße verspricht, konnten in der Vergangenheit stets mit höherer Unterstützung aus dem Volk rechnen.
Tsais Partei, die DPP, gilt im Allgemeinen als diejenige Partei, die sich für eine De-jure-Unabhängigkeit Taiwans einsetzt. Tsai hat dagegen mehrfach erklärt, dass sie den Status quo Taiwans einer faktischen Unabhängigkeit aufrechterhalten wolle. Diese Position wird laut verschiedenen Meinungsumfragen immerhin von bis zu 80 Prozent der Taiwaner geteilt. Tsai korrigierte damit ihre Chinapolitik von 2012, als es ihr nicht gelang, die Wähler von den Nachteilen eines chinafreundlichen Kurses zu überzeugen, wie ihn die damalige Ma-Regierung verfolgte.
Hung Hsiu-chu drohte hingegen bereits im Vorfeld ihrer offiziellen Ernennung zur Präsidentenkandiatin den Bonus zu verspielen, den ihre Partei während der letzten sieben bis acht Jahre in Sachen Chinapolitik genossen hatte. Ihre öffentlichen Äußerungen erweckten allzu oft den Eindruck, dass sie sich aktiv für eine Vereinigung mit China einsetzen wolle. Zwar haben Hung und ihre Partei diese Bedenken zurückgewiesen. Doch zwischenzeitlich forderte sogar Parteichef Eric Chu ein Umlenken Hungs auf den bisherigen Chinakurs der KMT. Die öffentliche Auseinandersetzung hat der Partei bereits Schaden zugefügt.
Votum über Wirtschaftskurs
Auch die Wirtschaftspolitik der beiden Kandidatinnen ist nicht von der China-Frage zu trennen: die KMT-Kandidatin Hung will durch eine Vertiefung der Beziehungen zu China mehr vom chinesischen Markt profitieren. Die DPP-Kandidatin Tsai will dagegen Handel mit der ganzen Welt treiben und damit die wirtschaftliche Abhängigkeit von China verringern.
Den bisherigen Meinungsumfragen zufolge erfreut sich Tsai Ing-wen mit Abstand der größeren Unterstützung im Land. So gehen auch die meisten Beobachter auf Taiwan davon aus, dass Tsai die Wahl gewinnen wird. Am 16. Januar 2016 werden die etwa 18 Millionen wahlberechtigten Taiwaner ihre Stimmen abgeben.