Neue Präsidentin, neue Ära?
20. Mai 2016Ein China? Konsens von 1992? Von dieser politischen Sprachregelung der geschiedenen Regierung um Ma Ying-jeou der Kuomintang-Partei (KMT) will die neue Präsidentin nichts wissen. Schon im Wahlkampf hatte sie sich vom Bekenntnis zum sogenannten "Konsens von 1992" distanziert. Vor 24 Jahren hatten Vertreter aus Peking und Taipeh auf das "Ein-China-Prinzip" verständigt. Allerdings versteht Peking darunter die "Volksrepublik China", Taipeh dagegen die "Republik China".
"1992 hatten sich beide Seiten auf einige gemeinsame Positionen verständigt", sagt die neue Präsidentin in ihrer Antrittsrede, "ich respektiere diese historische Tatsache". Sie wolle weiterhin Frieden und Stabilität wahren, aber trotzdem der Demokratie und dem Volkswillen in Taiwan Rechnung tragen, so Tsai weiter.
Wortwahl und Akzentsetzungen spielen bei der ganzen Zeremonie eine große Rolle. Wo würde Tsai sich von ihrem Vorgänger absetzen, wo die Kontinuität betonen? Im Wahlkampf hatte sie zum gesellschaftlichen Neuaufbruch aufgerufen, zugleich aber in heiklen Fragen wie der Chinapolitik Mäßigung und Ausgleich versprochen.
Fremdherrschaft?
Dass es ihr nicht um einen kompletten Bruch geht, wird bei der Vereidigung im Präsidentenpalast schnell deutlich. Der Akt folgt den formalisierten Regularien der Republik China. Viele von Tsais Anhängern lehnen diesen Staat ab, der in ihren Augen die Insel Taiwan 1945 in Besitz nahm und hier bis heute besteht. Die rot-blaue Flagge mit der weißen Sonne - dem Parteiwappen der Kuomintang (KMT) - ist für sie ein Symbol der Fremdherrschaft.
"Ich fühle mich nicht wohl, wenn so viele von diesen Flaggen um mich sind", begründet etwa der Parlamentsabgeordnete Freddy Lim seine Abwesenheit von den Feierlichkeiten. Der Heavy-Metal-Star, der mit der von ihm gegründeten New Power Party als Nachwirkung der Sonnenblumen-Protestbewegung 2014 ins Parlament eingezogen war, verteilt stattdessen lieber außerhalb der Absperrung Flugblätter zur Lage in Tibet.
Tsai zeigt dagegen keine Berührungsängste mit der Symbolik des früheren Nationalchina. Wie es das Protokoll vorsieht, verbeugt sie sich dreimal vor einem Porträt des KMT-Gründers und "Vaters der Nation", Sun Yat-sen. Dann leistet sie mit ausgestrecktem Arm und erhobener Hand ihren Eid auf die 1947 verabschiedete Verfassung der Republik China, die damals nicht nur für Taiwan, sondern für das Gebiet der heutigen Volksrepublik geschrieben worden war.
Tsais Vorgänger Ma Ying-jeou ist bei der Vereidigung seiner Nachfolgerin anwesend. Betont höflich gehen die beiden miteinander um. Für die Kameras geben Sie sich mehrfach die Hand. Als Oppositionsführerin war Tsai solchen Aufeinandertreffen jahrelang ausgewichen.
Grün statt Blau
Draußen vor dem Präsidentenpalast werden ganz andere Schwerpunkte gesetzt. Zwar flattern und prangen auch hier überall die Nationalflaggen der Republik China, das Showprogramm aber dreht sich komplett um Taiwans eigene Identität. Schon das Bühnendesign lässt die Farben Rot und Blau vermissen, verweist in Grün und Türkis auf Taiwans Topografie und seine maritime Lage.
Das Tanz- und Musikprogramm stellt mit Szenen aus Taiwans Geschichte heraus, dass die Insel eben nicht "schon immer ein Teil Chinas" war, wie Peking gern behauptet. Vielmehr erlebt sie eine Abfolge von Eroberungen und Zuwanderungsbewegungen, von Holländern und Spaniern über die Qing-Dynastie bis zur japanischen Kolonialzeit. Der Einzug der KMT-Truppen 1945 wird ebenfalls in diesen Kontext eingereiht.
Stärkung der Ureinwohner
Eine Konstante bilden Taiwans Ureinwohner, die austronesischer Abstammung und nicht chinesisch sind. Heute stellen sie nur noch 0,5 Prozent der Bevölkerung, erleben als ideale Verkörperung der taiwanischen Identität aber eine kulturelle Renaissance. Dem Programm heute drücken sie mit Tanz- und Gesangstruppen sowie prominenten Solokünstlern ihren Stempel auf. Sogar bevor Tsai und das Publikum gemeinsam die Nationalhymne anstimmen, singt zuerst ein Ureinwohner-Kinderchor. Tsai hat bereits angekündigt, als Präsidentin sich bei den Ureinwohner für die langjärige Diskriminierung entschuldigen und die rechtliche Stellung der Stämme stärken zu wollen.
Die Zeit des "Weißen Terrors", der fast 40-jährigen Diktatur unter KMT per Kriegsrecht, wurde nicht ausgespart. Drastisch vor allem eine Szene, in der KMT-Soldaten Zivilisten fesselten, die vor ihnen niederknien mussten, und der Reihe nach erschossen. Zahlreiche Opfer der damaligen Zeit und ihre Nachkommen sehen das von der Ehrentribüne oder aus dem Publikum. Die neue Präsidentin will das damalige Verbrechen gründlich aufarbeiten und deutlich weitergehen als ihr Vorgänger.
Taiwans Stolz
Am Ende appelliert die Show unter dem Motto "Der Stolz Taiwans" ans Selbstwertgefühl des Publikums und stellt alles heraus, mit dem eine Mehrzahl der Taiwaner sich heute identifizieren kann: Demokratie und Freiheit, Wirtschaft und Wohlstand und das heimische Essen. Selbst ein tanzender Bubble-Tea-Becher tritt auf. Das Getränk erobert von Taiwan aus den Weltmarkt und feiert dagegen in Deutschland nur den kurzfristig Siegeszug.
"Wir alle zusammen sind der Stolz Taiwans", lautete die Botschaft. Die vielen Volksgruppen, die über die Jahrhunderte nach Taiwan einwanderten, hätten eine demokratische, multikulturelle und wirtschaftlich entwickelte Gesellschaft erschaffen.