Tag und Nacht für "Middlesex"
9. April 2003Zehn Jahre nach dem überwältigenden Erfolg seines Debut-Romans, "The Virgin Suicides" ("Die Selbstmord-Schwestern"), wurde der in Berlin lebende Autor Jeffrey Eugenides jetzt mit dem Pulitzer-Preis 2003 geehrt. Das preisgekrönte Werk trägt den Titel "Middlesex". Der Roman überspannt acht Dekaden und eine ungewöhnliche Kindheit - eine Fabel über sich kreuzende Verwandtschafts-Linien, den Geschlechter-Konflikt und tiefes Verlangen. Und all das gruppiert sich um die verwickelte Familiengeschichte von Calliope Stephanides, einem amerikanischen Studenten - oder einer Studentin. Das Buch lotet mutig die unbequeme Phase des Erwachsenwerdens aus, wie sie ein Hermaphrodit erlebt - ein Mensch, der gleichzeitig männliche und weibliche Sexualorgane hat.
Nach dem Erfolg verschwunden
Für Furore hat Eugenides schon einmal gesorgt. Als er 1993 "The Virgin Suicides" veröffentlichte, war der Roman überraschend gut gefragt. Mittlerweile hat er den Weg in eine halbe Million Bücherregale gefunden. Glücklicherweise - denn während er an "The Virgin Suicides" schrieb, wurde Eugenides an seinem eigentlichen Arbeitsplatz gefeuert: Er hatte sich mehr auf das Manuskript konzentriert als auf seinen Alltagsjob.
"The Virgin Suicides" (die Geschichte von fünf Schwestern und ihrer unausgesprochenen Verabredung zum Suizid) wurde 1999 von Sofia Coppola verfilmt. Doch nach diesem Meisterstück schien Eugenides wie von der Bildfläche verschwunden.
Der Weg des Gens
Erst 2002 tauchte er wieder auf - mit "Middlesex". Drei Jahre lang hatte er Tag und Nacht daran gearbeitet. Und zwar in Berlin, wo Eugenides mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes lebt und wo auch einige der spannendsten Passagen des Buches spielen. "Middlesex" ist ein faszinierender Roman, der die Verbreitung eines defekten Gens nachzeichnet: von Kleinasien und der Vernichtung der Stadt Smyrna (1922) ins von der Wirtschaftskrise gebeutelte Detroit, durch die Rassenunruhen der 1960er Jahre und noch viel weiter. Aus der Sicht von Calliope ("Callie") Helen Stephanides, die durch ebendieses defekte Gen als Hermaphrodit geboren wurde, erzählt das Buch die Saga einer griechisch-amerikanischen Familie. Und diese Familie ist der von Eugenides nicht unähnlich. Überhaupt liest sich "Middlesex" an manchen Stellen wie eine Autobiografie: Callie ist im gleichen Jahr wie Eugenides geboren (1960) und im gleichen Detroiter Vorort aufgewachsen.
Doch gegenüber der Deutschen Welle betont der Autor, dass das meiste an der Geschichte erfunden sei: "Der Erzähler ist Hermaphrodit, ich nicht. Seine Großeltern haben eine Inzest-Beziehung, meine - das muss ich ausdrücklich klarstellen - hatten dies nicht. Ich habe das Skelett meiner Familiengeschichte genommen, um dem Buch eine Realität zu geben."
Außergewöhnlich und doch für alle
Wie auch immer, Callies Geschichte als Hermaphrodit ist ein extremes Konzept. Trotzdem, sagt Eugenides, sei die Erzählung universell. "Middlesex" sei symbolisch für "die Veränderungen, die wir alle während der Pubertät erleben, und für die sexuelle Verwirrung während des Erwachsenwerdens".
Schon vor dem Pulitzer-Preis hat Eugenides etliche Auszeichnungen erhalten, unter anderem das Stipendium für Berlin und Fellowships der Guggenheim Foundation und der National Foundation for the Arts. Sein neues Monumentalwerk will der Rowohlt-Verlag in Deutschland am 17. Mai 2003 auf den Markt bringen.