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Tag der Abrechnung in der Ukraine?

Frank Hofmann24. Oktober 2015

Die Kommunalwahlen in der Ukraine sind der zweite Test für die Post-Maidan-Reformer um Präsident Poroschenko nach der Parlamentswahl im vergangenen Jahr. Die Unzufriedenheit der Bürger wächst. Frank Hofmann aus Kiew.

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Menschen laufen zwischen violett-gelben Wahlplakaten (Quelle: Picture Alliance/Zumapress)
Bild: picture-alliance/Zumapress

Für seinen Wahlkampf um das Rathaus der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat Bürgermeister Vitali Klitschko die vergangenen Wochen einfach das getan, was er seit seiner Amtseinführung nach der Maidan-Revolution vergangenes Jahr fast jede Woche gemacht hat: Ein renovierter Kindergarten hier, eine neue Schule dort – der ehemalige Boxweltmeister mit zweiter Heimat Deutschland weihte sie alle ein. "Schaut her, wir tun etwas", heißt die Botschaft. Vor allem tun wir es besser als die Vorgänger unter dem durch die pro-europäische Revolution vom Hof gejagten Präsidenten Viktor Janukowitsch und seinen Anhängern. Vergangenes Wochenende war ein neuer Park dran in einem Außenbezirk von Kiew: Frische Blumen im Herbst – das ist reichlich ungewöhnlich. Einem jungen Vater mit Kind auf dem Arm gefällt es: "Es ist besser als früher. Ich bin ganz zufrieden mit ihm. Alles, was man machen kann, macht er." Allein: Bei Klitschkos öffentlichen Auftritten kommen ohnehin meist vor allem seine Fans – inklusive Nachwuchssportler - mit der Bitte um ein Autogramm auf einem Boxhandschuh.

Ukraine Kommunalwahl Rathaus in Kiew mit Vorplatz (Quelle: Evgenij Shulko/DW)
Von mehreren Kandidaten angepeilt - der Einzug ins Rathaus der ukrainischen HauptstadtBild: DW/E. Shulko

Wechsel unters Präsidentendach

Siegessicher kann Vitali Klitschko nach diesen Auftritten nicht sein. "Es ist Wahlkampf" ist seit Wochen die häufigste Antwort auf Nachfragen, warum gerade hier eine Straße geteert wird oder sich an anderer Stelle etwas bewegt. Und zwar so häufig als ob in den Monaten zuvor kompletter Stillstand in der ukrainischen Hauptstadt geherrscht hätte. Hatte es aber nicht. Zu Kiew gehört, dass vieles zerredet wird. Und dennoch hat der Ex-Boxer selbst wohl schon im Spätsommer gemerkt, dass sein Machterhalt keine glasklare Sache ist. Seine Partei "Udar" ("Schlag") hat Klitschko kurzerhand unter das Dach seines Mentors, des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko bugsiert. Nach der Maidan-Revolution hatte die deutsche, CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung lange versucht, Klitschko und seiner Partei ein klares konservativ-liberales Profil zu geben. Die Arbeit der Berater hat nichts genützt: "Die Parteien in der Ukraine sind ja eher Wahlgemeinschaften", sagt ein CDU-Politiker. Und da bekommt der Gewinner eben alles. Poroschenkos Parteienblock führt seit Monaten in den Umfragen – allerdings mit bedeutend weniger Stimmen als noch bei der Parlamentswahl im vergangenen Herbst.

Ukraine Kommunalwahl Vitali Klitschko auf einem großen Plakat wie er Menschenmenge die Hände entgegenstreckt (Quelle: © Evgenij Shulko)
Allgegenwärtig in Kiew: Bürgermeister KlitschkoBild: DW/E. Shulko

Stärkste Partei ist die Unzufriedenheit

Denn: die stärkste Partei in der Ukraine ist die der Unzufriedenen – wegen des wirtschaftlichen Absturzes die einen, weil die Reformen stocken die anderen, viele wegen beidem. "Mehr als die Hälfte der von uns befragten Ukrainer sind bereit, wieder auf die Straße zu gehen, wenn sich ihre Lebensumstände weiter verschlechtern", bilanziert das konservative "International Republican Institute" aus Washington eine Oktober-Umfrage: 53 Prozent. Demnach hielten 20 Prozent diese Phase noch aus. Ähnliche Ergebnisse veröffentlicht die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung. Demnach glauben 30 Prozent der Ukrainer nicht mehr an den Reformwillen ihrer nach der Maidan-Revolution an die Macht gekommenen Regierenden. Fast die Hälfte sagen sogar: "Es hat sich gar nichts verändert." Allein in der besonders pro-europäisch geprägten West-Ukraine ist der Reformeifer ungebrochen: Mehr als 60 Prozent fordern Kiew auf, schneller zu machen mit dem Wandel zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft weg von den immer noch prägenden post-sowjetischen Strukturen aus Oligarchie und Nepotismus.

Ukraine Kommunalwahl Straßenszene in Kiew (Quelle: DW/© Evgenij Shulko)
Wird der Unmut die Bürger bald wieder auf die Straßen treiben?Bild: DW/E. Shulko

Mehrheit für Marktwirtschaft

57 Prozent der West-Ukrainer wollen sogar die Verschlechterung ihrer Lebensumstände hinnehmen – wenn die Veränderungen zu Verbesserungen führen. Und eine Mehrheit der Ukrainer im ganzen Land will "eine entschlossene Umsetzung der Marktreformen, die Schaffung eines Wettbewerbsumfeldes, günstigere Geschäftsbedingungen" – ungefähr das, was auch die Politiker aus den USA und der EU von Kiew fordern. Zufrieden sind die Menschen offenbar vor allem da, wo genau auch das umgesetzt wird: Das Zentrum der Regionalhauptstadt Lemberg im Westen der Ukraine unterscheidet sich kaum noch von vergleichbaren Gemeinden im benachbarten Polen. Geschäftiges Treiben, der Tourismus boomt. Im Rathaus sitzt der 47jährige Oberbürgermeister Andrij Sadowyj von der liberalen Sammlungsbewegung Samopomitsch, der in manchen ukrainischen Medien schon als nächster Präsident gehandelt wird. Allerdings sitzt ihm im Ratssaal eine starke rechtspopulistische Fraktion gegenüber.

Eine alte frau steht vor ihrem zerstörten Haus in der Ukraine(Quelle:AFP/GettyImages)
Können erst im kommenden Jahr wählen: Die Bewohner in den Separatistengebieten der OstukraineBild: Getty Images/AFP/J. Macdougall

Elektronisches Vergabesystem gegen Korruption

Die Nationalisten könnten zu den Gewinnern der negativen Stimmung im Land zählen – genauso wie die alten Kräfte des geschassten autokratischen Präsidenten Janukowitsch. Es gibt viele Fragezeichen. Bei der Parkeröffnung in Kiew versucht der Titelverteidiger im Bürgermeisteramt zu beruhigen: "Die Erwartungen sind groß, alles soll verändert werden und das schnell. Doch das ist eine Herkulesaufgabe: -zig Jahre wurde in der Stadt nichts gemacht, 1600 Kilometer Straßen kann man nicht auf einmal erneuern." Immerhin: "Wir haben das Rathaus wieder für die Menschen geöffnet." Ein elektronisches Vergabesystem für städtische Aufträge schaffe faire Bedingungen für alle. Ein Drittel der Mittel, die früher in der Korruption versanken, stünden heute dem Stadtsäckel zur Verfügung. Klitschko, der Boxweltmeister bittet deshalb: um Verlängerung.