Türken in Chemnitz: "Merkel kommt zu spät"
17. November 2018Faik Karacali betreibt ein türkisches Kaffeehauses in Chemnitz. Er spricht jeden Tag mit seinen Kunden über die Vorfälle vom vergangenen Sommer. Und jetzt ist Bundeskanzlerin Merkel in der Stadt. "Was soll das uns noch bringen? Hätte sie sich von Anfang an eingeschaltet, hätten die Ereignisse nicht ein solches Ausmaß angenommen", sagt er und fügt enttäuscht hinzu: Er habe keine Erwartungen mehr an Merkel.
Ähnlich äußert sich Resul Celayir, der eine Straße weiter einen Herrenfriseursalon besitzt. Celayir lebt seit 24 Jahren in Chemnitz und sagt, die "rechten Gruppen" habe es dort schon immer gegeben. Früher, als er noch keine Familie gehabt habe, habe er sich deswegen keine Gedanken gemacht. Doch jetzt habe er eine Frau und zwei Kinder...
"Freitags können wir nicht mehr in die Stadt. Die rechten Gruppierungen gehen jeden Freitag auf die Straße. Wie heute", beschwert sich Celayir am Tag des Merkel-Besuchs. Er habe viele deutsche Kunden seit dem Sommer verloren. Die Krawalle hätten das Geschäft negativ beeinflusst. Die Kunden, die während des Interviews im Salon anwesend sind, hören Celayir aufmerksam zu und nicken zustimmend.
Angst vor der Kamera: "Chemnitz ist eine kleine Stadt"
Am diesem Freitag sind kaum Menschen auf der Straße. Stattdessen stehen an fast allen Ecken des Stadtzentrums dutzende Polizeiwagen. Die wenigen Türkeistämmigen, die man im Stadtzentrum antrifft, scheuen sich aus Angst um ihre Sicherheit vor der Kamera zu sprechen. Das Argument ist immer wieder dasselbe: "Chemnitz ist eine kleine Stadt. Ich will lieber nicht erkannt werden."
Eine junge Frau mit einem bunten Kopftuch, die wir in einem Döner-Laden antreffen, erklärt sich doch bereit, mit uns zu sprechen, solange wir ihr Gesicht nicht zeigen. Sie schaut sich mehrfach um, bevor sie zu erzählen beginnt: "Ich traue mich nicht mehr, alleine auf die Straße zu gehen", sagt sie. "Wenn ich in den Supermarkt gehe, muss mein Mann mitkommen. Das Sicherheitspersonal behandelt mich wie eine Diebin und kontrolliert jedes Mal meine Tasche", erzählt sie. "Das macht mich sehr traurig", fügt die junge Frau hinzu.
In einem weiteren türkischen Geschäft treffen wir Muhammed, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. "Jede Woche marschieren hier Nazis", sagt er. Jede Woche gäbe es Probleme in der Stadt. Seine Freunde, die meisten aus Afghanistan, aus dem Irak oder Syrien seien bereits mehrmals von Nazis geschlagen worden. Auch er selbst. "Alle wollen weg von Chemnitz. Keiner will hier noch leben", sagt er aufgewühlt.
Probleme bei den Behörden
Ein anderer junger Mann kommt auf uns zu. Er fragt uns, ob wir Journalisten seien und ob er uns sein Anliegen schildern dürfe. Seinen Namen möchte er aber ebenfalls nicht nennen. Er sei vor zwei Jahren aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet. "Unter Deutschland hatte ich mir ein freies Land vorgestellt, in dem kein Mensch diskriminiert wird. Er lebe momentan in einer Asylbewerberunterkunft und bekäme von anderen Flüchtlingen ganz komische Geschichten erzählt. Seit den Vorfällen im vergangenen Sommer sei in meinem Heim so gut wie kein Asylantrag mehr genehmigt worden. "Fast 95 Prozent aller Anträge aus meinem Bekanntenkreis wurden abgelehnt. Die meisten kommen aus Afghanistan, Pakistan oder muslimischen Ländern im Nahen Osten", sagt er. Das fände er sehr merkwürdig.
Eine Frau neben ihm, die seit drei Jahren in Deutschland lebe, hat schon resigniert. "Ich gehe nicht mehr zu Behörden, weil sie sehr gemein zu Türken sind. Wir werden regelrecht schikaniert. Das ist eine Schande für Deutschland", sagt sie. Auch sie möchte namentlich nicht genannt werden.
"Ich würde auch gegen die Flüchtlingspolitik demonstrieren"
Soner Uzun betreibt einen Imbiss in Flöha, unweit von Chemnitz. Er fährt seit langer Zeit nicht mehr dorthin. Doch er höre immer wieder, wie Flüchtlinge auch türkische Frauen in der Stadt "anbaggern oder anmachen" würden. "Das sind keine schönen Dinge", sagt er. Die Schuld sieht Uzun in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. "Ich würde auch gerne mit den anderen auf die Straße gehen und die Flüchtlingspolitik kritisieren, aber ich will nicht mit einem Nazi Seite an Seite laufen."
Der Friseursalon von Resul Celayir ist circa vier Kilometer vom Chemnitzer Zentrum entfernt. Dennoch steht auch in seiner Straße ein Polizeiwagen. Das scheint Celayir aber nicht zu beruhigen. Er erinnert an die Attacken auf ein jüdisches, ein persisches sowie ein türkisches Restaurant nach den Krawallen. "Ich habe meinen Laden hier", sagt Celayir. "Ich lebe seit 24 Jahren in Chemnitz. Aber wenn das so weiter gehen sollte, sieht es so aus, als müsste ich bald die Stadt verlassen." Die Türken in Chemnitz scheinen auch nach Merkels Besuch weiterhin besorgt zu sein.