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Kaum Perspektiven

Andreane Williams, Lebanon / db13. November 2013

Tausende syrische Kinder fliehen vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat. Ganz allein, getrennt von ihren Familien, müssen sie über die Runden kommen. Das Risiko von Missbrauch und Gewalt ist groß.

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kleiner Junge blickt aus dem Fenster 7 Copyright: Andreane Williams, DW Mitarbeiterin, Lebanon, Oct. 2013
Bild: DW/A. Williams

Abdallah weiß nicht, wie lange er schon im Libanon ist. Der siebenjährige Junge sitzt in der Sonne im Spielzimmer des "Home of Hope", einem Asyl für Straßenkinder im Libanon, und erinnert sich an seinen ersten Tag in der Unterkunft. "Als ich ankam, feierten die Kinder gerade eine Party. Sie gaben mir ein Geschenk, Hausschuhe und Kleidung", erzählt Abdallah der DW.

Abdallah floh vor einigen Monaten mit einem Onkel aus dem syrischen Idlib, nachdem seine Familie im Bombenhagel umgekommen war. Wochenlang lebte er mit seinem Onkel in einer Kirche, aber dann wurden die beiden festgenommen. Der Onkel habe ihn in der Unterkunft zurückgelassen und sei nicht zurückgekehrt, so Abdallah. "In meinem Land ist Krieg", erzählt der Junge. "Eine Bombe fiel auf mein Haus und das explodierte." Er habe kein Zuhause mehr gehabt, also sei er in den Libanon gegangen. "Ich weiß nicht, wo meine Familie ist - vielleicht sind sie tot", sagt er leise.

Seit dem Beginn des Krieges in Syrien vor zwei Jahren flüchten immer mehr Kinder, viele von ihnen ganz allein. Die Vereinten Nationen berichten, dass bereits mehr als 4.000 syrische Kinder ohne ihre Eltern oder erwachsene Verwandte in Nachbarländer geflohen sind.

Auf sich gestellt

Im Libanon sind laut UN-Kinderhilfswerk UNICEF zwischen 800 und 2.500 Kinder ohne Begleitung unterwegs, oder sie wurden von ihren Familien getrennt. "Ein syrischer Junge kam blutbedeckt in der Unterkunft an - jemand hatte versucht, ihn zu vergewaltigen", erzählt Maher Tabarani, der Leiter der Einrichtung "Home of Hope", der DW. Der Junge habe berichtet, er sei in einen Kampf geraten, und der Angreifer habe ihn mit einem Stein geschlagen. "Er erzählte uns, er lebe schon seit zwei Monaten auf der Straße, da seine Eltern ihn im Libanon ausgesetzt hätten. Seine Stiefmutter habe ihn nicht gewollt."

Home of hope. Kinderheim Copyright: Andreane Williams, DW Mitarbeiterin, Lebanon, Oct. 2013
Eine Zuflucht für Kinder: Das "Home of Hope"Bild: DW/A. Williams

Allein im vergangenen Jahr wurden 20 unbegleitete syrische Kinder in die Unterkunft gebracht. "In den meisten Fällen waren die Eltern der Kinder tot oder gezwungen, in Syrien zu kämpfen", meint Tabarani. "Die Kinder, meistens zwischen sieben und zwölf Jahren alt, kommen allein über die Grenze und müssen arbeiten, um zu überleben." Manchmal tauche nach fünf oder sechs Monaten eine Mutter auf, die ihr Kind wieder nach Syrien holen wolle.

Ausbeutung droht

UNICEF im Libanon verzeichnete in den vergangenen sechs Monaten einen erheblichen Anstieg an Kindern, die auf den Straßen arbeiten. "Die Kinder sind wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage gezwungen, zu arbeiten", meint Anthony MacDonald, Leiter des Kinderschutzdienstes der UN-Organisation. Manche seien die Haupternährer ihrer Familie, und in solchen Fällen oft Missbrauch und Gewalt von Erwachsenen ausgesetzt. "In ländlichen Gegenden arbeiten manche Kinder auf den Feldern, und wir erfahren von Schlägen und Misshandlungen oder sie arbeiten mit gefährlichen Werkzeugen und Maschinen." Manchmal würden junge Mädchen verheiratet, beschreibt MacDonald die Situation.

Weg von der Straße

In der verarmten armenischen Gemeinde Burj Hammoud nahe Beirut bemüht sich das "Mouvement Social"-Zentrum, die Kinder von der Straße zu bekommen. Wöchentlich kümmern sich die Mitarbeiter um etwa 600 Kinder, darunter auch syrische Flüchtlinge. Zwanzig Kinder sitzen heute in einem kleinen Klassenzimmer. Sie haben Englischunterricht. Die Lehrerin fragt die Kinder, die zwischen acht und zwölf Jahre alt sind, wer von ihnen schon arbeiten musste. Sechs kleine Hände schnellen in die Höhe.

Kinder im Unterricht im Libanon Copyright: Andreane Williams, DW Mitarbeiterin, Lebanon, Oct. 2013
Manche Flüchtlingskinder haben Glück - und UnterrichtBild: DW/A. Williams

Einer von ihnen ist Ivan, 13, aus Aleppo. Seit anderthalb Jahren ist er im Libanon. Er hat schon in vielen Geschäften in der Hauptstadt gearbeitet. Die langen Arbeitstage seien anstrengend und seine Arbeitgeber behandelten ihn manchmal schlecht, erzählt der Junge. "Einer meiner Chefs hat mich immer angebrüllt und ich bekam nur 20 Dollar in der Woche. Nachts bin ich müde. Jetzt arbeite ich in einem neuen Schischa-Laden und weiß nicht, wieviel ich verdiene, aber ich bin froh, Arbeit zu haben", meint Ivan. Der Teenager schuftet schon vor dem Unterricht, und nach der Schule bis abends um halb elf - täglich.

"Wir haben etwa 200 syrische Kinder in unserem Zentrum, die arbeiten mussten, um die Familie zu ernähren", erklärt Fayrouz Salameh, Direktorin des "Mouvement Social". Ihr oberstes Ziel sei es, die Kinder von der Straße weg und in die Schule zu bekommen. "Wir versuchen, den Eltern und den Arbeitgebern die Gefahren der Straße zu erklären, und die Notwendigkeit von Schule."

Bildungslücken

Aber syrische Kinder haben es im libanesischen Schulsystem schwer. Anders als in Syrien werden Mathe und naturwissenschaftliche Fächer auf Englisch unterrichtet. Viele jüngere Kinder waren wegen des Krieges auch in Syrien noch nie auf einer Schule.

Dazu kommt: Staatliche libanesische Schulen haben gar nicht die Kapazitäten, die wachsende Anzahl syrischer Kinder aufzunehmen. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass etwa 90 Prozent aller syrischen Flüchtlingskinder im Alter von sechs bis 17 Jahren keine Schule besuchen, und wegen fehlender Kapazitäten an libanesischen Schulen keinen Zugang zu Bildung haben.

300.000 libanesische Schüler und 30.000 syrische Flüchtlingskinder sind momentan in den staatlichen Schulen des Landes registriert. In 70 Schulen hat das libanesische Bildungsministerium (MEHE) vor Kurzem eine zusätzliche "Unterrichts-Schicht" für das laufende Schuljahr eingeführt - das bedeutet Platz für 210.000 syrische Kinder.

Zimmer im Home of Hope. Copyright: Andreane Williams, DW Mitarbeiterin, Lebanon, Oct. 2013
Ein Zuhause auf ZeitBild: DW/A. Williams

Und da im syrischen Konflikt kein Ende in Sicht ist, meinen Maher Tabarani und seine Kollegen, sei es sehr schwer zu vorhersagen, was mit diesen Kindern geschehen wird. "Es ist sehr schwer für diese Kinder, eine Zukunft im Libanon aufzubauen", sagt Tabarani. "Viele haben nicht einmal einen Ausweis." Man könne nur abwarten, wie es in Syrien weitergeht. "Vielleicht leben ihre Eltern ja noch irgendwo und warten auf eine Gelegenheit, sie zu holen."