Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Spielmasse der Politik
25. Mai 2022Wohin mit den syrischen Flüchtlingen in der Türkei? Über dreieinhalb Millionen Syrer sind im Laufe des Krieges in ihrer Heimat über die türkische Grenze geflohen, wo sie seit Jahren leben. Nun will die Türkei eine Million von ihnen "ermutigen", zurück nach Syrien zu kehren, und zwar in den teilweise sehr stark von Kurden besiedelten Norden des Landes. So hatte es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Anfang Mai erklärt. Dort baut die Türkei seit mehreren Jahren ihren Einfluss aus, auf Kosten der dort lebenden Kurden.
Erdogans Initiative sei nicht neu, sagt Salam Said, Wirtschaftswissenschaftlerin und Syrien-Referentin der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Ein entsprechendes Projekt wurde bereits 2019 entwickelt. Dass Erdogan es jetzt wieder aufgreift, dürfte vor allem an dem politischen Druck liegen, unter dem er steht." Im Sommer kommenden Jahres fänden in der Türkei die Präsidentschaftswahlen statt, und bis dahin müsse Erdogan seinen Wählern etwas bieten. "Und das ist nicht leicht angesichts der schwierigen Lage. Die Türkei leidet unter einer massiven Wirtschafts- und Finanzkrise, und der Wert der Lira verfällt." Für diese Probleme machten Rechtspopulisten die syrischen Flüchtlinge verantwortlich. Folge: Die Stimmung im Land richtet sich zunehmend gegen die Syrer. "Auf all das muss Erdogan reagieren. Die Idee, die Flüchtlinge zurück nach Syrien zu bringen, erscheint ihm da als ein angemessenes Mittel."
Zugleich versuche Erdogan mit seinem Vorschlag eine Politik umzusetzen, die er seit längerem verfolge, so Said. 2016 sei die Türkei in Teile Nordsyriens einmarschiert und setze seitdem die dort lebenden Kurden unter Druck. Damit wolle Erdogan eine autonome Kurden-Region nach dem Beispiel des Iraks verhindern.
Gelänge es Erdogan, rund eine Million überwiegend arabische Syrer im Norden des Landes anzusiedeln, wäre das für die dort lebenden Kurden ein schwerer Schlag. Die demographische Struktur der Region würde insgesamt zu ihren Ungunsten verändert. Und die dort dann lebenden arabischen Syrer wären angewiesen auf den Schutz durch die Türkei - und damit auch politisch und wirtschaftlich von ihr abhängig." De facto hätte die Türkei einen Teil des syrischen Nordens damit wohl endgültig unter ihre Kontrolle gebracht.
Vorwürfe aus Damaskus
Das syrische Außenministerium hat bereits auf Erdogans Pläne reagiert, und zwar in deutlichen Worten. Es sprach von einer Form der "ethnischen Säuberung", die die Türkei auf syrischem Gebiet umsetze. Erdogans "billige Äußerungen" offenbarten die "aggressiven Spiele seines Regimes gegen Syrien", hieß es aus dem Außenamt des Regimes unter Baschar al-Assad laut staatlicher Nachrichtenagentur Sana. "Die Regierung lehnt solche Spielchen strikt ab", so Damaskus, und fordere andere Länder auf, die türkischen Projekte nicht zu finanzieren und Ankara nicht weiter zu unterstützen.
"Regime vor Trümmern seiner Politik"
Völkerrechtlich seien Erdogans Pläne in der Tat eine Verletzung syrischer Souveränität, sagt der Syrien-Experte Carsten Wieland, ehemals Berater der Vereinten Nationen. "Dennoch ist es seitens der Assad-Regierung angesichts ihrer eigenen Politik höchst doppelbödig, der türkischen Seite Vertreibungen vorzuwerfen." Wieland erinnert daran, dass das Assad-Regime seit Beginn der gegen Assad gerichteten Proteste Millionen von Syrern zu Auslands- oder Binnenflüchtlingen gemacht habe. "Insofern ist die Position des Regimes mehr als scheinheilig. Vielmehr hat sich das Regime die derzeitige Lage selbst zuzuschreiben. Es steht jetzt vor den Trümmern seiner eigenen Politik, der Brutalität, mit der es den Aufstand niederschlug und das Land zersplitterte."
Verunsicherte Flüchtlinge
Die syrischen Flüchtlinge in der Türkei selbst sind durch Erdogans Ankündigung stark verunsichert und sehen ihre Lebensplanung einmal mehr in Frage gestellt - oder bereits über den Haufen geworfen. Letzteres triff etwa auf Ahmed zu (ein Pseudonym, sein richtiger Name wie auch die Namen der weiteren interviewten Flüchtlinge sind der Redaktion bekannt). Der 25-Jährige lebte drei Jahre in einem Ort nahe Istanbul. Aufgrund einer Reise in die Stadt am Bosporus ohne entsprechende Genehmigung sei er von der Polizei schwer geschlagen und gezwungen worden, Papiere für eine freiwillige Rückkehr zu unterschreiben, erzählt Ahmed. Dann wurde er abgeschoben und lebt seitdem in Afrin. Seine Familie hält sich weiterhin in der Türkei auf.
Eine Frau, die sich Mona nennt, lebt zwar noch in der Türkei, sieht ihre Existenz dort aber bedroht. Die 35-Jährige lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern seit fünf Jahren in der Stadt Iskenderun. "Nach dem Horror, den wir in Syrien durch die Bombardierung unserer Stadt durch das Assad-Regime erlebt haben, waren die Jahre hier geordneter", sagt sie der DW. "Wir hatten gehofft, in den nächsten Tagen die türkische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Aber nach den jüngsten Erklärungen fürchten mein Mann und ich nun, jeden Moment abgeschoben zu werden."
Ähnliches berichtet ein Syrer, der sich Muhammad nennt. Nach dem Tod seines Vaters infolge russischer Luftangriffe bei Idlib 2019 lebt der 24-Jährige seit 2020 in der Türkei, wo er als Journalist arbeitet. "Meine Familie und ich haben große Angst, dass einer von uns nach Syrien abgeschoben wird, dass unsere Familie zerstört wird und dass ich dann auch meinen Job verliere", so Muhammad im Gespräch mit der DW. "In Syrien gibt es für mich aber keine Möglichkeit, zu arbeiten oder zu leben, solange mein Haus noch unter der Kontrolle des Assad-Regimes steht."
In der Summe sei Erdogans Plan auch deshalb sehr problematisch, da es bei einer möglichen weiteren Invasion kurdisch geprägter Gebiete zu neuen schlimmen Vertreibungen von Menschen kommen könnte, sagt Syrien-Experte und Ex-UN-Berater Carsten Wieland. Die Türkei könnte weitere Gebiete besetzen und in ihre Einflusszone integrieren. "Immerhin", so ergänzt er, "hieße das dann aber auch, dass die eine Million zurückgeführten Syrer nicht in Assads Machtbereich zurückgetrieben und seiner Vergeltung und Willkür ausgesetzt sein würden."
Redaktionelle Mitarbeit: Omar Albam, Idlib.