Syrien-Flüchtlinge überfordern Türkei
11. Dezember 2013Neben einem Klettergerüst steht eine Gruppe von Jungen im Grundschulalter. Sie schauen herüber und tuscheln miteinander, als die Besuchergruppe an ihnen vorbeizieht. Ibrahim Demir geht vorneweg, über den breiten Feldweg, an Zelten und den Containern vorbei, in denen sich Toiletten und Duschen befinden.
"Wir sind hoffnungslos überfüllt - 12.000 Flüchtlinge leben hier und täglich werden es mehr", erklärt er. Vor 16 Monaten wurde das Flüchtlingslager "Nizip 1" eröffnet. Ursprünglich rechnete man damals mit 8000 Bewohnern. Demir ist der Leiter des Camps in der südanatolischen Provinz Gaziantep. "Die Bedingungen hier sind gut, aber wir können niemanden mehr aufnehmen", sagt er. Im internationalen Vergleich gelten die Verhältnisse in den türkischen Camps als überdurchschnittlich. "Nizip 1" verfügt zum Beispiel über Lebensmittelgeschäfte, Versammlungsräume, eine ambulante Krankenstation sowie vier Schulen.
Regierung bittet internationale Organisationen um Hilfe
Mehr als 400.000 Flüchtlinge sollen sich in der Gegend um Gaziantep aufhalten, fast eine Million im ganzen Land. Die Grenze zur Türkei ist für Syrer mit einem gültigen Reisepass offen. Allerdings finden auch zahlreiche illegale Grenzüberquerungen statt, weshalb die Statistiken keine genauen Angaben zulassen. Wer es in die Türkei schafft und sich offiziell registrieren lässt, kann medizinische Versorgung und die Unterbringung in einem Camp in Anspruch nehmen - sofern es die Kapazitäten zulassen. Nicht registrierte Flüchtlinge werden in der Regel inoffiziell und kostenlos medizinisch versorgt. Regelmäßig pendeln Syrer illegal zwischen ihrer Heimat und der Türkei, um vor Ort medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Für Elizabeth Whitaker von der Welthungerhilfe macht die Haltung der Türkei in der Vergangenheit einen Teil des gegenwärtigen Problems aus. Internationale Nichtregierungsorganisationen durften bis vor Kurzem nur grenzübergreifend, aber nicht in der Türkei selbst operieren. "Die Regierung wollte anfangs keine Hilfe von außen, erst in den vergangenen Wochen hat sie uns konkret aufgefordert, unsere Arbeit aufzunehmen", berichtet sie. Als eine von elf internationalen Organisationen hat die Welthungerhilfe im vergangenen Monat eine Arbeitsgenehmigung erhalten. Jetzt, vor dem Wintereinbruch, ist schnelle Hilfe besonders wichtig. Viele Menschen, die nicht in Camps untergekommen sind und über keine finanziellen Mittel verfügen, schlafen in öffentlichen Parks und ausgedienten Moscheen.
Wohnungen für Flüchtlinge kaum bezahlbar
Eine halbe Stunde Autofahrt vom Camp entfernt befindet sich das Stadtzentrum von Nizip. Am Rand eines Parks betreibt Amak Faidalallh einen improvisierten Verkaufsstand, den er mit einem Freund zusammen in einer Einfahrt zwischen zwei Geschäften aufgebaut hat. Hier verkauft der 40-Jährige bis spät in die Nacht Brot.
Erst vor Kurzem ist er in die Türkei geflüchtet - die Lage im umkämpften Aleppo ließ es nicht mehr zu, länger mit seiner Familie dort zu bleiben. Mit drei Kindern und seiner schwangeren Frau hat er in dem Haus eines Freundes Unterschlupf gefunden. Nun teilen sie sich eine Wohnung mit 16 weiteren Personen. Alles andere wäre für ihn nicht bezahlbar, denn einige Eigentümer machen aus der Not der Flüchtlinge ein gewinnbringendes Geschäft. "Wir werden hier ausgenommen. Von uns Syrern verlangen die Hauseigentümer das Vierfache des üblichen Mietpreises", klagt er.
Problematische Arbeitsverhältnisse
Neben der Wohnungssituation sind ungeklärte Arbeitsverhältnisse ein Problem für Flüchtlinge und Türken. Syrische Arbeiter werden geduldet, sind jedoch nicht versichert und haben kaum Möglichkeiten, Rechte einzufordern. Sie werden vorwiegend als billige Arbeitskräfte ausgenutzt und verdrängen somit türkische Arbeitnehmer.
Auf einer Farm etwas außerhalb der Stadt Gaziantep werden sechs syrische Männer beschäftigt. Einer von ihnen ist Muhammad. Der junge Mann steht in Gummistiefeln in einem Gehege und hält ein widerspenstiges Schaf fest, während eine Veterinärin dem Tier eine Spritze verabreicht.
Muhammad war Soldat bei den Regierungstruppen. Vor sechs Monaten desertierte er und kam in die Türkei. Zurück kann er nicht, in Syrien erwartet ihn ein Standgericht, erzählt er leise. Die Arbeit als Schäfer gefällt ihm. Er verdient nicht viel, aber er kann sich selbst versorgen. Seinen ersten Job in der Türkei musste er aufgeben, weil das Geld nicht zum Leben reichte. Sieben Tage die Woche hat er in einer Schuhfabrik geschuftet, in zwölf Stunden Schichten ohne Pause. Der Verdienst lag bei umgerechnet 200 Euro pro Monat. Sein türkischer Kollege an der Maschine neben ihm bekam für die gleiche Arbeit das Dreifache.
Generation traumatisierter Kinder
Auf dem Weg Richtung Grenze liegt die Kleinstadt Kilis. Mit dem Minibus dauert die Fahrt aus Gaziantep etwa eine Stunde dorthin. Vor der Scheibe zieht die hügelige Landschaft Anatoliens vorbei, während die Fahrgäste auf der Rückbank ein paar Worte Arabisch miteinander wechseln.
Haitham Wilio arbeitet in der syrischen Schule in Kilis. Er ist Koordinator und unterrichtet Informatik. Vor 15 Monaten fingen er und seine Kollegen an, in den umliegenden Parks Kinder und Jugendliche im Schulalter zu registrieren. Gespräche mit dem Bürgermeister der Stadt folgten, woraufhin die türkische Regierung das Gebäude und Teile des alltäglichen Schulbedarfs, wie Schreibtische und Tafeln, sponserte. Im ersten Jahr konnten 1500 Schüler unterrichtet werden, 47 Lehrer versuchen nun im Schichtbetrieb einen kindgerechten Alltag zu ermöglichen und Bildungslücken zu schließen. Besonders die Erlebnisse im Bürgerkrieg haben bei den Schülern Spuren hinterlassen.
"Wir haben es oft mit aggressiven Jungen zu tun, weswegen wir die oberen Klassen nach Geschlechtern getrennt unterrichten. In der Pause können Sie sehen, wie die Emotionen bei einigen hochkommen", erzählt Wilio. Er zeigt ein Formblatt, ausgestellt von der Internationalen Blauer Halbmondbewegung (IBC), die neben der türkischen Regierung der größte Unterstützer der Schule ist. Wenn ein Kind auffällig ist, kann die Schule dort psychologische Hilfe beantragen. Eigene Psychologen wären zu teuer.
Notversorgung an der türkisch-syrischen Grenze
Von der Schule aus sind es zehn Autominuten zum Grenzübergang "Öncu Pinar Kapisi". Direkt am Grenzposten befindet sich ein weiteres Flüchtlingslager, daneben eine Raststätte. Im Minutentakt fahren vollgepackte Taxis von hier weg. Kinder spielen neben der Straße, Männer und Frauen sitzen auf dem Boden und warten. Langsam setzt die Dämmerung ein.
Hinter einer Taxischlange ist ein Feld zu sehen, das einmal als provisorisches Lager gedient haben muss. Die Reste eines Zauns und die Abdrücke von Zelten im Boden sind noch zu sehen. Daneben von Menschen hinterlassener Unrat, Babywindeln und Plastikmüll. Der Zaun parallel zum Grenzposten ist noch intakt, bis auf ein Loch, etwa 50 Meter von den türkischen Beamten entfernt. Eine Gruppe kommt vorbei: zwei junge Männer mit Gepäck, eine ältere Dame mit einem Sack auf dem Rücken - gefolgt von einem alten Mann. "Salam Aleikum", grüßt einer. Dann helfen sie den älteren Herrschaften durch das Loch im Zaun. Ein paar Sekunden später sind alle drüben und verschwinden zwischen Pinienbäumen auf ihrem Weg zurück nach Syrien.