"Putin ist Geisel seiner selbst"
4. Februar 2020Swetlana Alexijewitsch, 71, eine der bedeutendsten Stimmen russischsprachiger Literatur, sitzt in der Lobby eines bescheidenen Hotels in der Stuttgarter Innenstadt. Vor ihr steht ein Pappbecher Latte mit doppeltem Espresso. Sie ist erkältet und etwas müde nach der Premiere, die am Vortag in der Oper Stuttgart gefeiert wurde. Der Komponist Sergej Newski vertonte ihren Roman "Secondhand-Zeit", für den Alexijewitsch 2015 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte.
DW: Swetlana Alexandrowna, wie hat Ihnen die Inszenierung gefallen?
Swetlana Alexijewitsch: Sergej Newski konnte in seiner Oper überraschend viel literarisches Material von mir verarbeiten. Er hat sehr subtil genau das aus meinem Text ausgewählt, was auch mir am Herzen liegt. Traurig war natürlich die Erkenntnis, dass sich in Russland nichts ändert – das ist sowohl bei Mussorgski als auch bei Puschkin oder Newski deutlich zu spüren.
Alexander Puschkins Drama "Boris Godunow", von dem Sie sprechen, endet mit den Worten "Das Volk bleibt stumm". Modest Mussorgskis gleichnamige Oper endet damit, dass Zar Boris Godunow wahnsinnig wird. Und wie endet "Secondhand-Zeit" – nun auch eine Oper?
...mit dem allgemeinen Wahnsinn! Das sieht man doch. Liest man heute die Aussagen einiger russischer Politiker, bekommt man den Eindruck, dass eine Epidemie des totalen Wahnsinns um sich greift. Man lese bloß von den Plänen für die Kirche Russlands, deren "führende Rolle" in der Gesellschaft nun im Grundgesetz festgehalten werden soll. Auf die Idee wäre nicht einmal ein Zar gekommen!
Sie sprechen gerade von der aktuellen Verfassungsreform in Russland: Sie als Menschenkennerin - was denken Sie, was Putin vorhat? Einige in Russland vermuten, er bereite seinen Abgang vor. Womöglich will er noch paar schöne Jahre jenseits des Kremls verbringen…
Das glaube ich nicht. Mir scheint, Putin ist, genauso wie der weißrussische Präsident Aljaksandr Lukaschenko, bereits eine Geisel seiner selbst. Da kann man nicht so einfach "abspringen". Diktaturen sind ja auch in Bezug auf die Diktatoren selbst brutal. Sie führen kein menschliches Leben.
Ich wollte zum Beispiel verstehen, was für ein Mensch eigentlich Lenin war. Also las ich verschiedene Geschichten über ihn, da fiel mir ein kleines Bändchen in die Hände: Einmal übernachtete Lenin bei einem Arbeiter, und dieser Arbeiter wachte nachts auf, als er hörte, wie jemand durch den Raum ging, in dem Lenin schlief. Der Arbeiter ging hin und sah, wie sich Lenin an den Bücherregalen zu schaffen machte. Lenin drehte sich um und sagte voller Verzweiflung: "Das alles habe ich noch nie gelesen!" Da lag ein so tiefes menschliches Bedauern darin, dass das Leben an ihm vorbeigegangen war. Schließlich war er Geisel seiner eigenen paranoiden Ideen geworden.
Lenin bedauerte, so viele Bücher nicht gelesen zu haben, aber was werden Putin und Lukaschenko bedauern?
Sie werden bedauern, dass es ihnen nicht gelungen ist, eine Monarchie eingeführt zu haben. Dass sie ihre Macht nicht an ihre Nachkommen vererben können. Das hätten sie gern, denn sie haben es satt, selbst diese primitive Demokratie vorzuspielen, an die längst niemand mehr glaubt. Sie werden womöglich auch bedauern, kein eigenes Leben gelebt zu haben. Geld, ja. Milliarden, Wohnungen, Paläste - aber das macht ja nicht glücklich. Männer messen sich ständig untereinander: Wer hat den längsten… Eine Zeit lang finden sie diese Ränkespiele spannend. Ist jemand jedoch schon aufgestiegen, dann weiß er genau, welchen Preis er dafür zahlen musste. Er merkt, dass er keine echten Freunde mehr hat - nur die Feinde sind echt.
Die Welt wird aber immer noch regiert von Leuten wie Putin, Lukaschenko und Trump – den "alten weißen Männern". Wie sollen sich die jungen Menschen verhalten? Wem gehört die Zukunft?
Die Menschheit verändert sich. Ich war vor kurzem in London und habe dort viele junge Öko-Aktivisten gesehen, da Greta Thunberg gerade in der Stadt war. Mich ließ dabei das Gefühl nicht los, in eine andere Dimension, ja, auf einen anderen Planeten geraten zu sein. Was für uns eine Bedeutung hatte, ist für diese Menschen nicht mehr so wichtig. So habe ich mit einem jungen Mann gesprochen, der für die Rechte der Pinguine kämpft – nicht aber für die Menschenrechte. Die Generation, die mit "Harry Potter" aufgewachsen ist, versteht die Frage nach Gut und Böse anders, als wir, die wir mit Dostojewski aufwuchsen. Die Zukunft gehört aber der Generation von Greta, mit all ihren Ideen, Ängsten, Lieben und Antipathien.
Der Zweite Weltkrieg ist ein wichtiges Thema in Ihrer Arbeit. Seit kurzem wird in Osteuropa buchstäblich ein "Krieg um den Sieg" geführt, an dem insbesondere Russland und Polen, aber auch baltische Staaten und Weißrussland beteiligt sind. Wer sind die Sieger? Wer die Befreier? Wer die Besatzer? Wer die Opfer? Gibt es eine Möglichkeit, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen?
Tatsächlich hört man immer wieder, dass etwa Denkmäler für sowjetische Soldaten mit Farbe beschmiert werden, auch in Weißrussland. Dabei muss man eigentlich auf die Knie gehen vor diesen Burschen aus Rjasan oder Minsk, die, koste es was es wolle und weiß der Himmel wo, gekämpft und gestorben sind, um die Welt vom Faschismus zu befreien, die ihre armen Mütter allein ließen. Auf der anderen Seite: Warum will keiner in Russland oder Weißrussland darüber sprechen, dass die Schuld dafür, dass der Faschismus überhaupt möglich wurde, bei Stalin liegt?
Ist eine Vergangenheitsbewältigung in Russland und Weißrussland möglich?
Nein. Wir wissen immer noch nicht, was mit unseren Völkern im 20. Jahrhundert geschah. Die Archive sind verschlossen. Die Wahrheit über den Krieg ist ein Tabu. Bevor nicht eine wirklich neue, freie Generation kommt, wird sich nichts verändern. Bloß: woher soll diese Generation kommen? In der Ukraine gab es den ersten "Maidan"(friedliche Revolution 2013 in der Ukraine, auch "Revolution der Würde" genannt, Anmerkung d, Red.), und daraus ist eine neue Generation hervorgegangen, die fähig ist zu einem zweiten und zu einem dritten "Maidan".
Aber warum ist so etwas nicht auch in Russland oder in Weißrussland möglich? Schließlich ist die Ukraine auch ein postsowetisches Land?
Die Ukraine hat eine reiche demokratische Tradition, man denke nur an den Kosakenstaat "Saporoger Sitsch", der bis ins Mittelalter zurückreicht. (Die Organisationsstruktur der Kosaken trug demokratische Züge, Anmerkung d. Red.). So etwas gab es in Weißrussland nicht. Und in Russland schaltet sich sofort die "stalinistische Maschine" ein: Der Mechanismus der Angst lässt die Russen überzeugt auf die Seite der Starken treten.
Es hieß, Sie arbeiten zur Zeit an einem Buch über die Liebe. Über welche Liebe?
Über die Lieben von Männern zu Frauen, von Männern zu Männern, von Frauen zu Frauen. Über die Liebe allgemein, diese größte Gabe des Lebens.