Chronistin menschlichen Leids
8. Oktober 2015Seit Jahren gehörte sie zu den Favoriten, nun hat die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch den wichtigsten Literaturpreis der Welt zugesprochen bekommen. War es eine politische Entscheidung? Oder doch eine literarische, wollte das Nobelpreis-Komitee eine neue Form von Autorenschaft würdigen?
Die Vergangenheit einfangen
Swetlana Alexijewitsch ist erst die 14. Frau, die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird. Ihre Bücher finden sich in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Sie wurde 1948 in der Ukraine geboren und lebt nach langen Aufenthalten im Ausland seit 2010 wieder in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Nach dem Journalistik-Studium machte sich Alexijewitsch zunächst als Reporterin einen Namen. Sie arbeitete als Korrespondentin eines Literaturmagazins. In ihren Reportagen und Essays entwickelte sie ihren ganz eigenen literarischen Stil: Sie führte Interviews und verdichtete diese zu emotionalen Collagen des tagtäglichen Lebens.
Die Autorin gilt als große Chronistin des Zerfalls der Sowjetunion und als mutige Aufklärerin. Mit ihrer Vorgehensweise hat sie eine eigene literarische Gattung geschaffen – den dokumentarischen "Roman in Stimmen". Ihre Bücher, in denen sie die Geschichte der ehemaligen Sowjetunion aufarbeitet, basieren auf zahlreichen Interviews mit Zeugen. Niemand sonst hat den Zerfall der UdSSR so dokumentiert wie sie. "Es geht um die Stimmen der Menschen und um Details. Ich versuche, aus solchen Gesprächen den Geist der Zeit einzufangen. Nur so kann ich das Bild der Vergangenheit vervollständigen", erklärte Alexijewitsch 2014 in einem Interview mit der Deutschen Welle.
Romane in Stimmen
Diese Methode wandte sie erstmals in ihrem Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" an, das sie 1983 veröffentlichte. Darin thematisiert sie das Schicksal sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg und demontiert mit mehreren hundert Interviews den sowjetischen Heldenmythos vom "Großen Vaterländischen Krieg". Internationale Bekanntheit errang sie 1997 durch die Veröffentlichung von "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft". Das Buch ist ein psychologisches Porträt der betroffenen Menschen und gibt erschütternde Einblicke in das Ausmaß der Katastrophe.
Zu ihren bekanntesten Romanen zählt "Zinkjungen", eine Dokumentation des Krieges der Sowjetunion in Afghanistan, die auf Russisch 1989 erschien (dt. 1992). Für diese Collage aus Gesprächen mit Soldaten, deren Müttern, Frauen und Witwen, musste sie sich mehrfach in Minsk vor Gericht verantworten.
Ihren Roman "Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus" würdigte der Stiftungsrat des Deutschen Buchhandels mit dem Friedenspreis 2013. Darin erzählen Menschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion von ihren unerfüllten Hoffnungen auf Freiheit nach dem Auseinanderbrechen des Staatenblocks. Für die Recherche zu diesem Buch ging Alexijewitsch 2011, nach 16-jährigem Exil in Paris, Berlin und anderen Orten in ihr Heimatland zurück, um Material zu sammeln. "Um solche Bücher wie ich zu schreiben, muss man vor Ort sein", erklärte die Autorin im DW-Interview.
Preise für eine mutige Autorin
Die Haltung des Lukaschenko-Regimes gegenüber der 67-Jährigen hat sich nicht geändert. Sie dürfe ihre Bücher nach wie vor nicht in ihrem Heimatland veröffentlichen, so Alexijewitsch. Sie erschienen aber in Russland und kommen so auch nach Weißrussland. "Eine Zeit lang gab es sie nur unter dem Ladentisch, aber jetzt kann man sie oft auch so bekommen. Und die Menschen lesen sie auch." Mit ihrem 2014 in einer vierten Ausgabe auf Deutsch erschienenen Werk "Die letzten Zeugen" liegt Alexijewitsch auch quer zu dem, was man in ihrer Heimat veröffentlichen darf. Jahrelang hat sie Zeitzeugen interviewt, um die Erinnerung von Weißrussen, die als Kind den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, zu dokumentieren und sie seit 1985 (dt. 1989) in immer wieder veränderten und erweiterten Ausgaben veröffentlicht.
"Ihr vielstimmiges Werk" setze "dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal ", begründete das Nobelpreis-Komitee seine Entscheidung. Als Nobel-Jurorin Sara Danius ihr heute telefonisch die Nachricht überbrachte, reagierte Swetlana Alexijewitsch zunächst nur mit einem Wort: "Fantastisch". Später betonte sie in Interviews, welche Ehre es sei, in einer Reihe mit großen Schriftstellern wie Boris Pasternak zu stehen. "Freiheit erfordert viel Arbeit", sagte Swetlana Alexijewitsch im DW-Interview. Jetzt ermöglicht ihr der Preis, ihre Arbeit fortzusetzen, und damit nicht nur für ihr Heimatland ein Stück verlorengegangene Menschlichkeit wieder zu erringen.