Stummes Meisterwerk
8. April 2004Der Grund könnte natürlich die Freiheitsstatue von Belleville sein: ein monströses Denkmal mit einer Frikadelle in der Hand. Vielleicht mögen Amerikaner sowas nicht. Dabei lästert Regisseur Sylvain Chomet genauso über seine Landsleute, die mit Kippe, Baskenmütze und Rotwein vom Campingwagen aus die Tour de France bejubeln. Heraus kommt ein skurril-gefühlvolles Trick-Werk.
Keine Seenot im Tretboot
Das legendäre französische Radrennen spielt eine zentrale Rolle als "Das große Rennen von Belleville": Ein kleiner Junge namens Champion wird von seiner Oma Souza zum Rad-Athleten trainiert und strampelt bei der (Tor-)Tour de France mit. Doch er wird von Mafiosi entführt und nach Belleville verschleppt. Die Oma und ihr Hund Bruno starten eine Rettungsaktion. Und Beistand finden sie beim gealterten Damen-Gesangstrio "Les Triplettes de Belleville" – den Namensgebern für den französischen Originaltitel.
Chomets Film (ab 8. April 2004 im Kino) hat Ecken und Kanten; die Handlung fährt einen Zickzack-Kurs; die Logik ist verworren wie in einem Fiebertraum. Gerade das macht ihn erfrischend in einem Genre, in dem gemeinhin alles glattgebügelt, lieb und nett ist. In Chomets Welt dagegen kann die Oma den Atlantik im Tretboot überqueren, und Fred Astaire wird von seinen Tanzschuhen aufgefressen.
Froschschenkel und fetter Hund
Eine Welt der kindlichen Phantasie und Details, die sonst im Film selten sind. Zum Beispiel, dass die gestrenge Mutter des Radfahrers einen Klumpfuß hat. Aber auch eine, die an den Grenzen des guten Geschmacks kratzt: Bruno, der dicke Hund, liefert Stoff für einige leicht makabre Gags. Auch die Froschmahlzeiten der gealterten, aber fitten "Triplettes" sehen nicht gerade lecker aus. Aber in einem Zeichentrickfilm macht das nichts, erst recht nicht in diesem.
Mit Einfällen voll morbider Poesie wirft Chomet um sich. Und mit Nostalgie. "Das große Rennen von Belleville" spielt in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in einem sepiabraunen, gammeligen, windschiefen gallischen Universum.
Beredt ohne Worte
Es atmet ein bisschen den Geist von Jacques Tati: geräuschreich und gesprächsarm. Die Menschen sagen kaum ein Wort, das Geschehen erklärt sich durch Klänge, Radiostimmen, quietschende, scheppernde Gegenstände – und darunter liegt Jazzmusik im Stil der 30er Jahre, quasi live hergestellt von Rose, Violette und Blanche, den "Triplettes", die Finger schnipsend den Beat auf Küchengeräten suchen.
An dieser anspielungsreichen, schwarzhumorigen Vergangenheits-Beschwörung hat Sylvain Chomet fünf Jahre lang gezeichnet und geschrieben. Kein Allerweltsfilm, aber trotzdem und deswegen grandios. Und noch ein Insidertipp: Bis nach dem Abspann sitzen bleiben! (reh)