Multiple Sklerose: Ursachen für einen schweren Verlauf
6. Juli 2023Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, die zu Symptomen wie Schmerzen, Müdigkeit, Sehstörungen, Lähmungen und Gedächtnisproblemen führen kann. Ein internationales Forschungsteam hat nun die erste genetische Variante entdeckt, die mit dem Fortschreiten der Multiplen Sklerose (MS) zusammenhängt und damit auch mit der Verschlimmerung der Symptome.
Das internationale Team unter der Leitung von Forschenden der University of California, San Francisco (UCSF), und der University of Cambridge im Vereinigten Königreich analysierte die Daten von rund 22.000 MS-Patienten im Rahmen einer sogenannten genomweiten Assoziationsstudie. Dabei wurden mithilfe von Statistiken genetische Varianten mit bestimmten Merkmalen in Verbindung gebracht. Ihre Ergebnisse haben die Forschenden in der Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht.
Haben beide Elternteile die Variante vererbt, benötigen die Patienten etwa vier Jahre früher einen Gehstock als diejenigen, die ihre MS nicht von Vater und Mutter geerbt haben, so die Studie.
Die entdeckte Genvariante sitzt zwischen zwei Genen, von denen eines an der Reparatur geschädigter Zellen beteiligt ist und das andere an der Kontrolle viraler Infektionen. Beide Gene sind im Gehirn und im Rückenmark aktiv.
"Das ist ein überzeugender Beweis dafür, dass die Frage, ob man gut oder schlecht mit der MS zurechtkommt, stark davon abhängt, wie gut das Gehirn mit den Angriffen des Immunsystems fertig wird", sagt Stephen Sawcer. Er ist Professor für Neurologie an der Universität Cambridge und Co-Autor der Studie.
Sawcer hatte Mitte der 1990er Jahre seine Doktorarbeit über Multiple Sklerose geschrieben und sich seitdem intensiv mit der Krankheit beschäftigt. Die Identifizierung der Genvariante, die in der Nature-Studie beschrieben ist, bedeutet einen großen Fortschritt in der MS-Forschung.
"Ich arbeite nun schon seit mehreren Jahrzehnten an diesem Thema, und dies ist die wichtigste Entdeckung, die ich je gemacht habe", so Sawcer.
Was ist Multiple Sklerose?
Um zu verstehen, was die Entdeckung dieser genetischen Variante so außergewöhnlich macht - und was sie von allen bisherigen Entdeckungen in der MS-Forschung unterscheidet - muss man sich die Multiple Sklerose genauer ansehen. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise das Gehirn und das Rückenmark angreift.
Diese Angriffe schädigen das Myelin, die fetthaltige Substanz, die die Nervenfasern umgibt und isoliert. Dadurch wird die Fähigkeit des Nervensystems, Signale zu übertragen, gestört.
Diese Schübe, wie die Anfälle genannt werden, können zu einer Vielzahl von Symptomen führen. Dazu gehören Taubheit, Kribbeln, Stimmungsschwankungen, Gedächtnisprobleme, Schmerzen, Müdigkeit, Sehstörungen oder Lähmungen.
Wie stark MS-Patienten jeweils betroffen sind und wie oft Schübe auftreten, ist sehr unterschiedlich. "Manche Patienten haben keine Symptome, manchmal wird die Krankheit erst nach dem Tod festgestellt, und wir wussten nicht einmal, dass sie MS hatten", sagt Sawcer, der als Arzt MS-Patienten auch behandelt. "Sie können sehr leichte Symptome haben, die sie eine Zeit lang belasten und dann lange Zeit nicht wiederkehren."
Kürzlich hatte ich eine Frau, die ich vor 15 Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, und jetzt war sie mit einem neuen Schub zurück, obwohl sie dazwischen keine Beschwerden hatte. Die Symptome können aber auch sehr ernst sein. Die Dame im Bett neben ihr war stark behindert und konnte kaum noch selbständig Nahrung zu sich nehmen."
Warum die entdeckte Genvariante für die MS-Forschung wichtig ist
Alle bisher entdeckten MS-bezogenen genetischen Varianten haben dabei geholfen zu bestimmen, wie hoch das Risiko einer Person ist, an MS zu erkranken. Diese neue Variante ist die erste, die Aufschluss darüber gibt, wo genau die einzelnen Patienten auf dem Spektrum liegen, das das Ausmaß der Krankheit angibt.
Bisher sind mehrere Medikamente zur Behandlung der Symptome bei MS-Schüben auf dem Markt. Es gibt allerdings keines, um das allgemeine Fortschreiten der Krankheit behandeln und aufhalten zu können. Das bedeutet, dass sich der Zustand bei einigen Patientinnen und Patienten schneller verschlechtert als bei anderen.
"Alle Medikamente, die zur Kontrolle der Schübe entwickelt wurden, wirken immunmodulatorisch. Dies entspricht der Genetik der mehr als 200 Varianten, die mit dem MS-Risiko verbunden sind", so Sergio Baranzini. Der Professor für Neurologie an der UCSF und Mitverfasser der Studie, schrieb in einer E-Mail: "Die Genetik zur Schwere der Krankheit legt nun nahe, dass das zentrale Nervensystem das Ziel einer neuen Klasse von Therapeutika sein sollte."
Die neue genetische Variante zeigt, dass das Fortschreiten von MS damit zusammenhängt, wie gut das Gehirn mit den Angriffen des Immunsystems umgehen kann.
Aussichten auf eine neue MS-Behandlung
Nur weil die Gruppe, die zwei Kopien der Variante geerbt hat, schneller auf eine Gehhilfe angewiesen war, lässt dies nicht die Schlussfolgerung zu, dass die nun neu entdeckte Variante bei einzelnen Patienten zur individuellen Vorhersage des Verlaufs dienen könnte. Bevor dies möglich ist, müssen laut Sawcer noch viele weitere genetische Varianten identifiziert werden. Es sind also weitere genomweite Assoziationsstudien erforderlich.
Pharmaunternehmen können nun eine spezifische Variante nachweisen, die mit dem Fortschreiten der MS assoziiert ist und wissen nun auch, dass dies Gene betrifft, die normalerweise im Gehirn aktiv sind. Jetzt sind sie wesentlich eher bereit, Geld in die Entwicklung eines Medikaments zu investieren, das versucht, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten und damit den Verlauf.
"An erster Stelle steht bei MS-Patienten die Notwendigkeit für ein Medikament, das die fortschreitende, die progressive Form der MS behandelt", sagt Sawcer, "und die Aussicht darauf, dass dies funktioniert, hat sich jetzt radikal verändert."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.