Streitfall ACTA
1. März 2012Nachdem zehntausende Menschen europaweit gegen ACTA demonstriert haben, hat auch die Politik die Brisanz des Themas erkannt. Mehrere Staaten, darunter Deutschland, haben die Ratifizierung des Abkommens ausgesetzt. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) verwies auf noch "offene Fragen". Auch in Brüssel hat man reagiert. Die EU-Kommission lässt vom Europäischen Gerichtshof prüfen, ob das Vertragswerk mit EU-Recht vereinbar ist. Nun befasst sich auch das Europäische Parlament mit dem Streit um ACTA.
Erste öffentliche Debatte in Brüssel
Das Abkommen, über das drei Jahre lang verhandelt worden war, kann nur in Kraft treten, wenn es von allen EU-Staaten ratifiziert und vom EU-Parlament gebilligt wird. Die nationalen Regierungen halten sich aber derzeit in den Diskussionen auffällig zurück. Sie scheinen die unbequeme und brisante Entscheidungsfindung Brüssel überlassen zu wollen. "Die haben ein solches Abkommen über Jahre gefordert und begleitet. Einige von diesen Ländern waren sogar Motor. Und nun, wo die Zivilgesellschaft zu Recht darüber diskutiert, sagen sie: 'Jetzt soll mal Europa entscheiden'", sagt der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange der Deutschen Welle. Grundsätzlich begrüßt er die Diskussionen im Parlament.
Am Mittwoch (29.02.2012) hat der federführende Handelsausschusses des Parlaments erstmals öffentlich in einer Sitzung über ACTA debattiert. Weitere parlamentarische Ausschüsse werden ebenfalls Stellung nehmen. Nach den Debatten, Abstimmungen und Expertenanhörungen in den Ausschüssen wird die Plenarversammlung des EU-Parlaments über das Abkommen abstimmen.
Ursprünglich ist ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) mit großer Unterstützung ins Leben gerufen worden. Ausgehandelt wurde das Abkommen von der EU, den USA, Australien, Kanada, Japan, Mexiko sowie Marokko, Neuseeland, Singapur, Südkorea und der Schweiz. Sobald die Vereinbarung in Kraft getreten ist, kann jedes Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) eine Vertragsaufnahme beantragen. Ziel ist es, den Schutz geistigen Eigentums in der Güterwirtschaft und im Internet zu verbessern. Es geht unter anderem um illegale Downloads von Video- und Musikdateien und um eine Verschärfung von Zollkontrollen vor allem in Hinblick auf gefälschte Markenwaren aus Ostasien.
Netzaktivisten befürchten Einschränkungen
Von ACTA würden vor allem Industrieländer profitieren. Sie leiden besonders unter Fälschungen von Markenartikeln und anderen Verstößen gegen das geistige Eigentum. Nach Angaben der EU-Kommission entstehen in Europa jährlich acht Milliarden Euro Verluste durch Produktfälschungen. Über das Ziel, Markenpiraterie zu verhindern, sind sich im Kern alle Beteiligten einig. Aber über die Einzelheiten wird heftig gestritten - auch weil einige ACTA-Passagen unterschiedlich ausgelegt werden können. Vor allem Internetnutzer in Europa machen Front. Sie befürchten, dass Provider Onlineaktivitäten stärker überwachen und Rechteinhaber bei Verstößen übertrieben hohen Schadenersatz fordern könnten.
Der deutsche Europaabgeordnete der Grünen, Jan-Philipp Albrecht, war einer der ersten Gegner des Abkommens. Er sieht das Abkommen als nicht mehr zeitgemäß an. Außerdem könnten die falschen Personen ins Fadenkreuz möglicher Ermittlungen geraten: "Im Bereich des Urheberrechts werden Maßnahmen vorgeschlagen, die gegenüber den Internetnutzern deutlich unterdrückend angelegt sind“, sagte Albrecht der Deutschen Welle. "Anstatt Nutzer zu belangen, sollten eher die Anbieter stärker verfolgt werden, die urheberrechtsverletzendes Material anbieten."
Nachteile für Entwicklungsländer?
Ein weiteres Problem sieht Albrecht darin, dass bei den Verhandlungen zur Formulierung des Handelsvertrages nicht alle Länder beteiligt gewesen seien. Dies entspreche nicht den Regeln einer internationalen Gemeinschaft. "Wenn man schon ein Abkommen zur Bekämpfung von Produktpiraterie macht, dann muss man alle Staaten mit einbeziehen. Insbesondere die Entwicklungs- und Schwellenländer, denn gerade aus den Schwellenländern stammen solche Verletzungen. Und die Entwicklungsländer haben berechtigte Interessen, nämlich Technologie- oder auch Generika-Ausnahmen." Damit schließt sich Albrecht Befürchtungen einiger Hilfsorganisationen an, ACTA könnte den internationalen Handel mit Generika erschweren. Generika sind Nachahmer-Medikamente, die in der Regel preiswerter sind als die Originale. Deshalb sind sie vor allem für Kranke in armen Ländern wichtig.
Auch wenn die Front der ACTA-Befürworter bröckelt, wenden sich nicht alle Politiker komplett ab. So sieht der Europa-Abgeordnete Daniel Caspary von der CDU auch positive Seiten des Abkommens: "ACTA ist ein Meilenstein im Kampf gegen Marken- und Produktpiraterie. Erstmals gehen Industrie- und Schwellenländer gemeinsam geschlossen gegen gefälschte Produkte und Markenartikel vor", erklärt Caspary auf seiner Homepage. Doch wegen der beschränkten Anzahl von Unterzeichnerstaaten sieht auch er das Abkommen nicht als optimale Lösung an.
Eine Menge rechtlicher Fragen
Wann und ob ACTA Gesetz in Europa wird, ist ungewiss. Für die Entscheidung des Europäischen Parlaments gibt es keine Frist. Weil das Abkommen viele rechtliche Fragen aufwirft, wird die von der EU-Kommission erbetene Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs abgewartet. Dies wird wohl Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Bis dahin erwartet der Europaabgeordnete Albrecht hitzige Wortgefechte in Brüssel, "weil die Fronten verhärtet sein werden." Sollte das Parlament zustimmen, kann der EU-Rat der Staats- und Regierungschefs das Abkommen zu bindendem Recht erklären. Wenn die EU-Parlamentarier ablehnen, würde ACTA zu den Akten gelegt. Die jetzige Fassung des Abkommens wäre vom Tisch und müsste bei Interesse in allen Einzelheiten neu verhandelt werden. Bisher hat das EU-Parlament zwei Abkommen abgelehnt: SWIFT, bei der es um die Weitergabe vertraulicher EU-Finanzdaten an US-Behörden ging, und ein Fischereiabkommen mit Marokko.
Autor: Ralf Bosen
Redaktion: Dеnnis Stutе