Streitbar und wortgewaltig: Zum 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki
Sein Urteil war gefürchtet, denn Marcel Reich-Ranicki galt als Deutschlands einflussreichster Literaturkritiker. Legendär waren seine Verrisse im "Literarischen Quartett". Heute wäre er 100 geworden.
Legendär: "Das Literarische Quartett"
Seine ersten Auftritte hatte Marcel Reich-Ranicki im Radio 1964 ("Das literarische Kaffeehaus"). 1988 wurde er Chef-Moderator der TV-Bücher-Sendung "Das Literarische Quartett" im ZDF. Kontroverse Buchbesprechungen mit Unterhaltungswert, das war sein Markenzeichen. Oft auf Kosten seiner Mitstreiter Sigrid Löffler, Helmut Karasek und Ulrich Greiner (v.l.). Damit schrieb er Kultur-Geschichte.
Ein bewegtes Leben
Geboren wurde er als Marceli Reich am 2. Juni 1920 im polnischen Wloclawek. Er besuchte eine deutsche Schule, 1929 schickte ihn die Familie zu jüdischen Verwandten nach Berlin, wo er Abitur machte. 1938 wiesen ihn die Nazis nach Polen aus. Mit seiner Ehefrau Teofila überlebte er das Warschauer Ghetto. Später gelangte er über Umwege zurück nach Deutschland. Sein bewegtes Leben wurde 2008 verfilmt.
Schweighöfer als Marcel Reich-Ranicki
Die Verfilmung seiner Lebensgeschichte fand im Deutschen Fernsehen viele Zuschauer. Der Film zeigte, wie es dem jüdischen Paar gelang, den Holocaust zu überleben. Nach dem Krieg arbeitete Reich-Ranicki zunächst in London für den polnischen Auslandsgeheimdienst. Nach seinem Rauswurf wandte er sich der Literatur zu und begann, als freier Autor zu arbeiten.
Der Literaturkritiker
In einem Warschauer Verlag betreute Reich-Ranicki das Lektorat für deutsche Literatur. Er veröffentlichte Texte über Exilschriftsteller wie Anna Seghers und schrieb Einleitungen für Werkausgaben deutscher Schriftsteller. 1958 kehrte er von einer Studienreise in die BRD nicht nach Polen zurück. Es gelang ihm ein erstaunlicher Aufstieg - vom freien Autor zum mächtigen Literaturchef der FAZ.
Streitbarer Geist
Er legte sich mit allem und jedem an, wenn ihm etwas missfiel. Reich-Ranicki kannte keine Gnade in seiner scharfen Kritik, "schlechte Literatur“ hielt er für überflüssig. Sogar vor international gefeierten Schriftstellern wie Martin Walser (links im Bild) oder Günter Grass machte er nicht Halt. Von den Verrissen des "Literaturpapstes" erholte sich freilich manch einer der geschmähten Autoren nie.
Kein Solo für RR
Mit seiner scharfzüngigen Polemik machte sich der prominente Literaturkritiker viele Feinde – was ihn amüsierte. Intellektuelles Kräftemessen war sein Metier, die Angst vor seiner Kritik aber übersah er. Martin Walser verewigte Reich-Ranickis Macht in seinem Roman "Tod eines Kritikers". 2001 versuchte sich der im Fernsehen mit einer "Solo"-Show. Doch ohne Sparringspartner funktionierte das nicht.
Die Frau an seiner Seite
Seine Frau Teofila - die beiden hatten 1942 noch im Warschauer Ghetto geheiratet - war bei allen offiziellen Anlässen treu an der Seite ihres prominenten Mannes. Seine Stimme und wortgewaltige Präsenz durften nicht fehlen im öffentlichen Kulturbetrieb. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel schätzte ihn - nicht zuletzt als Botschafter der deutschen Literatur im Ausland.
Die Künstlerin Teofila
Teofila ("Tosia") Reich-Ranicki überließ das Wort zumeist ihrem Mann, nur selten wurde sie interviewt. Sie war eine begabte Zeichnerin - und Pianistin bis zur Konzertreife. Viele Jahre hielt sie Aquarelle unter Verschluss, die sie im Warschauer Ghetto von dem dortigen Alltagsleben gemalt hatte. Ihre Familie kam im Holocaust um. Erst 1999/2000 ehrte das Jüdische Museum sie mit einer Ausstellung.
Schlechte Noten für das deutsche Fernsehen
Noch 2009 sorgte Reich-Ranicki für einen Skandal: Bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises für sein Lebenswerk lehnte er die Auszeichnung wortstark ab - vor laufender Kamera. "Der Gott des Donners und des Zorns", wie die Presse damals schrieb, begründete den Affront mit dem "schlechten Niveau des deutschen Fernsehens". Talkmaster Thomas Gottschalk lud ihn daraufhin in seine Show ein.
Preis für Journalistisches Lebenswerk
Den renommierten Henri-Nannen-Preis hatte der streitbare Kritiker und Buchautor Reich-Ranicki dagegen gern entgegen genommen. Überreicht wurde ihm die schwere Büste vom ehemaligen Feuilleton-Chef und Mitherausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, der nach ihm das Literatur-Ressort auch stark geprägt hat. Beiden sagte man ausgeprägten Eigensinn und starke Egozentrik nach.
Stimme der Literatur
Mit seinen Kritiken und Büchern hielt Marcel Reich-Ranicki die öffentliche Debatte über Bücher und Literaten gern auf Trab. Den Interviewmarathon auf Buchmessen, wie hier 2009 in Frankfurt, liebte er. Fremdwörter waren ihm ein Graus. Er war auch einer der Mitbegründer des Klagenfurter Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis, ein weltweit beachtetes Schaulaufen der Autoren.
Rede zum Holocaust-Gedenktag
Eine große Leistung war seine Rede im Deutschen Bundestag, die er am Holocaust-Gedenktag 2012 hielt - als Überlebender einer jüdischen Familie. Bewegende Worte fand er dafür, sehr persönliche. Sie wurde als Rede des Jahres ausgezeichnet. Am 18. September 2013 starb der große Literaturkritiker im Alter von 93 Jahren. Marcel Reich-Ranicki hinterließ eine Lücke im Kulturleben Deutschlands.