Streit um Strom in Afghanistan
19. Mai 2016Kabul im Ausnahmezustand. Zehntausende Menschen gingen in dieser Woche auf die Straße, um gegen die Entscheidung der Regierung bezüglich des "TUTAP"-Projekts zu protestieren, eines gigantischen Vorhabens, Afghanistan und Pakistan mit Strom zu versorgen. Die Menschen tragen Sturmlampen und afghanische Fahnen. Die meisten von ihnen gehören der afghanischen Ethnie der Hazara an, einer in der Vergangenheit unterdrückten Minderheit, die überwiegend dem schiitischen Islam angehören. Die Hazara fordern Strom für die für ihre Buddhastatuen bekannte Provinz Bamyan. Auf selbstgemalten Schildern steht "TUTAP via Bamyan". "Die Bevölkerung will Gerechtigkeit", sagt Ali Kawa, einer der Demonstranten, gegenüber der DW. "Gerechtigkeit bedeutet, dass die Möglichkeiten und Ressourcen dieses Bodens für alle da sind, und dass sie an alle, unabhängig von der Herkunft oder Religion, verteilt werden."
In erster Linie soll das Energieprojekt TUTAP Strom aus Turkmenistan (TU) und Tadschikistan (TA) nach Afghanistan (A) und Pakistan (P) liefern. Bereits bestehende Infrastruktur wird durch TUTAP vernetzt und somit Strom für Millionen von Afghanen zur Verfügung gestellt. Ursprünglich wurde die Route auf Empfehlung der deutschen Firma Fichtner über Bamyan geplant, unter anderem weil sich die chinesischen und indischen Bodenschatzprojekte Mes Aynak und Hajigak in unmittelbarer Nähe befanden. Eine hier geplante Anlage zur Stromerzeugung sollte an die TUTAP-Trasse angebunden werden. Ein der DW vorliegendes aktualisiertes Dokument der Firma Fichtner rät jetzt aber von dieser Streckenführung ab. Denn die Energieanlage wurde nie gebaut, zudem drohen Kosten und Zeitaufwand beim Bau zu explodieren.
Als vor einigen Tagen bekannt wurde, dass die afghanische Regierung die geplante Hochspannungsleitung nicht durch das mehrheitlich von Hazara bevölkerte Bamyan, sondern über den weiter östlich gelegenen Salang-Pass führen wird, reagierten die Hazara mit Demonstrationen. In London beleidigten drei afghanische Hazara Präsident Ashraf Ghani öffentlich bei seiner Rede im Royal United Services Institute (RUSI) und nannten ihn einen Rassisten. In den sozialen Medien gab es heiße Diskussionen für und wider diese Aktion. Hazara und Paschtunen lieferten sich hitzige Wortgefechte und beleidigten sich gegenseitig. Den Höhepunkt erreichten dann die Proteste am Montag: In Kabul forderten die Hazara ein Ende der Diskriminierung in der Verteilung der Ressourcen. Sie sehen sich als ohnehin unterdrückte Minderheit doppelt gestraft.
Politischer Missbrauch eines technischen Problems
Dabei kann das TUTAP-Projekt weder die Provinz Bamyan noch das Salang-Gebirge in der Provinz Parwan mit Strom versorgen. So wie eine Pipeline kein Wasser an ihre Umgebung abgibt, kann auch kein Strom einfach aus einer Hochspannungsleitung abgezweigt werden, sagt Daoud Noorzai, stellvertretender Stabschef des afghanischen Präsidenten, gegenüber der DW. "Eine Trassenführung über Bamyan würde nicht nur mehr Kosten verursachen, sondern auch den Abschluss des Projekts um Jahre verzögern". In Zukunft wolle die Regierung auf mehr Transparenz in der Durchführung dieses und weiterer Projekte setzen, um Manipulationen von Seiten unterschiedlicher politischer Lager zu verhindern.
Auch Alexey Yusopov, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul, sieht die Politisierung des Projekts. "Hier geht es ganz stark um das Ungerechtigkeitsgefühl, um die Unzufriedenheit mit der Regierung insgesamt - und viel weniger um den technischen Grund. Emotional geht es darum, dass die Protestierenden das Gefühl haben, die Regierung nimmt etwas weg, was sie versprochen hat". Das nutzen Hazara-Führer, die selbst in der Regierung sitzen, aus. "Politische Anführer wie Mohammad Mohaqeq und Karim Khalili wollen ihre Macht demonstrieren und zeigen, dass sie ihre Leute auf die Straße bringen können", so Yusupov. Es sei nicht verwunderlich, dass sich die Frustration ein Thema suche. In Zukunft könne dies aber auch ein anderes sein.
Spaltung der afghanischen Gesellschaft
Es gibt aber auch Gegendemonstrationen. In der südlichen Provinz Kandahar beispielsweise trafen sich am Dienstag Stammesälteste, Provinzratsmitglieder, Vertreter der Zivilgesellschaft und Studenten, um sich gegen die Demonstrationen der Hazara auszusprechen. Sie hielten Plakate mit dem Bild Ashraf Ghanis in die Höhe. Sie fordern eine TUTAP-Route über den Salang. "Das ist ein nationales Projekt", sagt etwa der Stammesälteste Haji Saifullah. "Die Salang-Route bringt mehr Vorteile für das ganze Land. Deshalb soll sich die Regierung nicht unter Druck setzen lassen", so Saifullah. Die Hazara sollten sich nicht persönlich angegriffen fühlen.
Tatsächlich ist Bamyan eine der unterentwickeltsten Provinzen in Afghanistan. Andere Provinzen wie beispielsweise Ghor, Badghis oder Uruzgan haben jedoch ebenso kaum Entwicklungshilfe erhalten. Seit dem Abzug der ISAF-Kampftruppen Ende 2014 fließen auch weniger Hilfsgelder ins Land. Das hat die Lage weiter verschlechtert. Die afghanische Bevölkerung klagt über Korruption und steigende Arbeitslosigkeit, eine große Zahl an Binnenflüchtlingen und stockende Friedensgespräche mit den Taliban. Die Unzufriedenheit gegenüber der ohnehin mittlerweile unbeliebten Regierung wächst. Im TUTAP-Projekt entlädt sich der Frust. Gefährlich wird es jedoch, weil über die Hochspannungsleitung auch die ethnischen Spannungen wieder zunehmen. Schon in den 1990er-Jahren führten derartige Spannungen zu einem Bürgerkrieg.
Präsident Ashraf Ghani hat nun eine Kommission ins Leben gerufen, die die politischen und technischen Fragen klären soll. Die Energieversorgung ist in weiten Teilen Afghanistans nicht gewährleistet. Selbst die Bewohner der Hauptstadt Kabul sind tägliche Stromausfälle gewohnt. In den ländlichen Gebieten Afghanistans gibt es selten länger als ein paar Stunden Elektrizität. Es hängt nun von der externen Kommunikation der Kommission ab, ob sich die Gesellschaft in der TUTAP-Frage vereint oder weiter auseinanderdriftet.