Letzte Hoffnung
1. Dezember 2008Schätzungsweise jede vierte Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stammt aus Russland. Über einen längeren Zeitraum waren es vor allem Opfer der Kriege im Nordkaukasus, die in Straßburg Schutz gegen staatliche Willkür suchten. Heute sind es vermehrt Menschenrechtler, Politiker und Anwälte. So klagte auch der Anwalt der Moskauer Helsinki-Gruppe, einer Menschenrechtsorganisaton, gegen Bedrohungen seitens der Sicherheitsorgane. 2005 bekam Igor Fedotow Recht.
Um die Menschenrechte in Russland steht es katastrophal
Seitdem vertritt er immer öfter andere Bürger Russlands in Straßburg. Denn in Russland sei die Lage der Menschenrechte katastrophal, meint der Jurist. Sein Büro sei eine Art Sammelbecken für Klagen aus ganz Russland. Die Regierenden würden nicht müde immer und überall zu verkünden, es werde alles für den Schutz der Menschenrechte unternommen. Fedotow jedoch sagt: "Ich kann bezeugen, dass dem nicht so ist. Ich registriere einen gegensätzlichen Trend: Die Möglichkeiten für unsere Bürger, ihre Rechte zu verteidigen, werden immer weniger."
Zurzeit betreut Igor Fedotow gerade eine Sammelklage von Rentnern. Eine von ihnen ist Galina Keminowa. Sie kämpft bereits seit sechs Jahren um ihre Rente. Im Jahre 2002 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, dass Arbeitnehmern, die unter gesundheitsschädlichen Bedingungen gearbeitet hatten, einen Rentenzuschlag zusprach. Das traf auch auf Galina Keminowa zu, aber die staatliche Rentenversicherungsanstalt verweigerte ihr den Zuschlag. Erst nach 3,5 Jahren gelang es ihr, vor Gericht einen positiven Bescheid zu erwirken, aber der wurde von der Versicherungsanstalt nicht umgesetzt.
Von Vorzimmer zu Vorzimmer gescheucht
Eine Eingabe bei der Staatsanwaltschaft zwang die Beamten letztendlich, den Zuschlag auszuzahlen. Die Freude war jedoch nur von kurzer Dauer, denn Keminowa bekam kurz darauf einen Bescheid zugeschickt, es seien neue Umstände bekannt geworden, man müsste die Rente neu berechnen, erzählt sie. "Ich habe mich an das Gebietsgericht gewandt, aber die scheuchten mich nur von Vorzimmer zu Vorzimmer, bis mir eine Beamtin sagte, 'Deine Eingabe kannst du gleich in den Papierkorb tun.' Und das bei Gericht."
Allein im Gebiet Moskau gibt es etwa 17.000 Rentner, die unter gesundheitsschädigenden Bedingungen gearbeitet haben. Jeder Zehnte von ihnen hat den Zuschlag aberkannt bekommen. Und das ist für die älteren Menschen viel Geld. Eine Durchschnittsrente beträgt in Russland 4500 Rubel - 124 Euro - eine mit Erschwerniszuschlag 7000 Rubel bzw. 200 Euro. Nun haben etwa 100 der Rentner mit Hilfe von Anwälten eine Sammelklage in Straßburg eingereicht.
Drohungen und Versprechungen statt gütiger Einigungen
Noch hat der russische Staat die Möglichkeit, sich mit den Klägern außergerichtlich zu einigen. Aber Anwalt Fedotow weiß aus eigener Erfahrung, dass solche gütlichen Einigungen in Russland oft gar nicht gütlich ablaufen: Meist meldeten sich bei den Klägern Beamten, setzten sie unter Druck oder versprächen ihnen goldene Berge, berichtet er. Das Ziel: Sie sollen ihre Klagen zurückziehen. Bei Fedotow selbst klopften eines Morgens drei sehr athletische junge Männer an die Tür, so Fedotow. Sie wiesen sich als Kriminalpolizisten aus und händigten ihm eine Vorladung vor Gericht aus. "Da stand nur mein Name, sonst nichts. Ich dürfte mir irgendein Delikt aussuchen, sagten sie, sie hätten vom stellvertretenden Justizminister die Weisung erhalten, mich dazu zu bringen, meine Klage beim Europäischen Gerichtshof zurückzuziehen."
Solange die Justiz in Russland selbst nicht fähig oder auch nicht willens ist, die Bürger gegen Behördenwillkür zu schützen, bleibt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihre letzte Zuflucht.