AKK: "Strategischer Kompass" für Europa
16. Juli 2020Polen war am Mittwoch das erste Land, das die Bundesverteidigungsministerin auf ihrer Reise besuchte. Die NATO und die transatlantischen Beziehungen seien der Eckstein der Sicherheitsarchitektur in Europa und müssten dies auch bleiben, hatte sie nach dem Treffen mit Polens Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak erklärt. Allerdings müsse die europäische Säule innerhalb der NATO gestärkt werden, so Annegret Kramp-Karrenbauer ("AKK").
Beide Minister betonten, dass es keine Konkurrenz zwischen der EU und der NATO geben dürfe. "Ich freue mich, dass wir uns in der fundamentalen Sache einig sind, dass die EU mit der NATO nicht rivalisieren, sondern dass sich die Kapazitäten und Fähigkeiten ergänzen sollen", sagte Polens Verteidigungsminister und nannte dieses Zusammenspiel eine Garantie der europäischen Sicherheit.
Der strategische Kompass der EU
Bei der Stärkung der europäischen Säule der NATO sei für Annegret Kramp-Karrenbauer "die Fähigkeit, Truppen durch Europa, etwa durch Deutschland nach Polen zu verlegen", besonders wichtig. Deshalb stünden Polen und Deutschland "Seite an Seite", wenn es um die Erhöhung der Mittel für die "militärische Mobilität" im gerade diskutierten EU-Budget geht. Im aktuellen Kompromissvorschlag von EU-Ratspräsident Charles Michel sind für den EU-Verteidigungsfonds sieben Milliarden Euro vorgesehen. Mit weiteren 1,5 Milliarden Euro soll das europäische Verkehrsnetz an militärische Ansprüche angepasst werden.
Bei den Gesprächen im polnischen Verteidigungsministerium ging es vor allem um den "strategischen Kompass" der EU. Das neue sicherheitspolitische Grundlagendokument, das 2022 präsentiert werden soll, wird Bedrohungen für Europa neu identifizieren. Die Bundesministerin will, dass es "von einer breiten politischen Einigkeit" getragen wird. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft soll eine gemeinsame Basis für den Kompass erstellt werden. "Hier ist es besonders wichtig, dass wir in der Bedrohungsanalyse unsere gemeinsame Sicht insbesondere auf die Haltung und auf das Handeln Russlands mit einbringen", sagte Kramp-Karrenbauer in Warschau.
Zwischen Russland und Amerika
Die Beziehungen mit Russland sind in Polen ein heikles und emotionsgeladenes Thema. Das zeigte das Treffen der Bundesministerin mit einer Gruppe polnischer Sicherheitsexperten, bei dem es unter anderem um den in Polen scharf kritisierten Bau der Ostseepipeline ging. "Ich kann es offen sagen, weil es auch kein Geheimnis ist: Nordstream 2 ist sicherlich nicht mein Lieblingsprojekt. Wenn ich von Anfang dabei gewesen wäre und die Verantwortung in der Hand gehabt hätte, hätte ich es wahrscheinlich nicht angestrebt und abgeschlossen", beteuerte Kramp-Karrenbauer. Sie sprach von "ernstzunehmenden" Sorgen Polens und der Ukraine, dass damit die Abhängigkeit vom russischen Gas in Europa wachsen könnte. Laut Kramp-Karrenbauer würde es aber Deutschland nicht betreffen, weil es in letzten Jahren "eine massive Anstrengung unternommen" habe, seine Energieversorgung zu diversifizieren, unter anderem durch erneuerbare Energien und Flüssiggas. Die Abhängigkeit vom russischen Gas sei geringer geworden und dieser Trend werde auch bleiben, versicherte sie.
AKK würde gerne mehr gemeinsame deutsch-polnische Projekte sehen. Polen könnte sich etwa überlegen, sich dem deutsch-französischen Kampfpanzerprojekt anzuschließen, so die Ministerin. Deutschland und Frankreich wollen gemeinsam Kampfpanzer bauen, die voraussichtlich ab 2038 bei der Bundeswehr und in anderen Streitkräften in Europa zum Einsatz kommen, um die betagten "Leopard 2" zu ersetzen. Zwar verfügt Polens Panzerarmee überwiegend über ältere deutsche Fahrzeuge, das Land blickt aber in Richtung USA, wenn es um die Sicherheit geht. Das hat auch Konsequenzen für die Zusammenarbeit im Militärbereich. 2018 hat Polen mit dem Kauf von zwei Boden-Luft-Raketensystem vom Typ "Patriot" das größte Rüstungsgeschäft in der Geschichte des Landes besiegelt. Derzeit bahnt sich ein Kauf von 32 Mehrzweck-Kampfflugzeugen vom Typ F-35 an. In Polen sind über 4500 amerikanische Soldaten stationiert, gewünscht wird aber seit Jahren eine Verstärkung der US-Präsenz. Das sei wegen der Bedrohung seitens Russlands notwendig, heißt es in Warschau.
Politische Unterschiede in der Region
In ihren Gesprächen über die Bedrohungsanalyse und den europäischen "strategischen Kompass" wird die CDU-Chefin auf große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern Mittel- und Südosteuropas stoßen, wenn es um die Einstellung zu Russland, NATO und den USA geht. In Bulgarien, das auf dem Reiseplan direkt nach Polen steht, gibt es seit einer Woche gegen die bürgerlich-nationalistische Regierung massive Demonstrationen, die von den oppositionellen Sozialisten und vom Russland-freundlichen Präsidenten Rumen Radew unterstützt werden. Europa hat sich mehrmals über die russischen Machtansprüche im Schwarzmeer-Raum besorgt geäußert.
Nach Bulgarien wird die Bundesverteidigungsministerin noch Ungarn, Tschechien und die Slowakei besuchen.
In der Sicherheitspolitik würden die Länder der Region alles andere als mit einer Stimme sprechen, sagt Wojciech Przybylski, Chef des Warschauer Thinktanks Visegrad Insight im DW-Gespräch. "In Polen und Tschechien werden die russischen Gefahren klar definiert. Auch in der slowakischen Hauptstadt Bratislava, wo gerade eine neue Sicherheitsstrategie in Vorbereitung ist, spielt die russische Bedrohung eine wichtige Rolle. Doch schon in weiten Teilen der Gesellschaft herrscht eine ganz andere Einstellung zu Russland", betont der. Besonders im Osten der Slowakei sei die historische und kulturelle Bindung an Russland stark ausgeprägt.
Ähnlich sei es in Teilen der ungarischen Gesellschaft, was Premierminister Viktor Orbán in seiner Politik nutze. "Im Konflikt um die Ukraine nimmt Orbán Positionen an, die eher Russland und nicht dem Westen nahestehen. Es geht um die Blockierung der Zusammenarbeit der Ukraine mit EU und NATO. Auch in seiner Energiepolitik setzt er auf die Zusammenarbeit mit Moskau", sagt Przybylski. Große Unterschiede gebe es auch in der Einstellung zu den USA. Während in Polen US-Truppen willkommen seien, würden etwa NATO-Soldaten in Tschechien oder in der Slowakei als "fremde Truppen" gelten.