Strahlenopfer in Fukushima
11. März 2014Wenn Minako Fujiwara von ihrem Hund erzählt, wird sie traurig. Der kleine Vierbeiner ist im vergangenen Juni gestorben. "Ihm sind die Haare am Hals ausgefallen und die Haut hat sich dort schwarz verfärbt", berichtet die 56-Jährige. Diese Symptome habe es auch bei Tieren in Tschernobyl gegeben. Tatsächlich könnte das Haustier an zu viel radioaktiver Strahlung gestorben sein. Denn bei der Evakuierung aus der Stadt Namie neun Kilometer nördlich der havarierten Atomanlage Fukushima Daiichi musste die Familie ihren Hund zunächst zurücklassen.
Frau Fujiwara hat außer hohem Blutdruck bisher kein Gesundheitsproblem. Aber der Arzt der Gemeinde Namie, Shunji Sekine, befürchtet Strahlenfolgen auch für die Menschen. In seiner Praxis in der Stadt Nihonmatsu am Rande einer Containersiedlung mit 230 evakuierten Familien aus Namie untersucht Sekine seit dem Atomunfall fast täglich die Schilddrüsen von Namie-Bürgern. Vor allem Kinder und Jugendliche seien durch die Aufnahme von radioaktivem Jod in ihre Schilddrüse gefährdet, sagt der 71-Jährige.
Zusammenhang Atomunfall und Krebs
"Bisher fehlen größere Studien, aber ich sehe einen Zusammenhang zwischen Atomunfall und Krebs", betont der Mediziner, der bis zu seiner Pensionierung am Universitätsklinikum Fukushima Spezialist für Schilddrüsen- und Brustkrebs war. "Für meinen Geschmack gibt es einfach zu viele Fälle." Nach offiziellen Zahlen von Anfang Februar wurden bei rund einer Viertel Million untersuchten Kindern und Teenagern 33 Krebsfälle gefunden, also 13 Erkrankungen je 100.000 Einwohner. Das wäre fast vier Mal so hoch wie der weltweite Durchschnitt für alle Altersgruppen.
Dennoch will die Regierung der Präfektur Fukushima keine relevanten Details über die Krebsfälle veröffentlichen. Entsprechende Anfragen des Mediziners Sekine etwa nach dem früheren Wohnort der krebskranken Kinder und dem Ausmaß ihrer Verstrahlung bleiben unter Verweis auf den Datenschutz unbeantwortet. Stattdessen wiegelt der Gesundheitsberater der Präfekturregierung und oberste Schilddrüsenexperte Japans, Shunichi Yamashita, ab: "Die Zeit ist noch nicht reif genug, irgendeine Aussage zu treffen. Dafür müssen wir noch weitere Untersuchungen abwarten."
Behörden schweigen
Doch die Stadt Namie will nicht auf Unterstützung der Regierung warten. Denn schon einmal wurde man Opfer staatlicher Verdunkelung. Erst vier Tage nach der Reaktorexplosion vom 15. März 2011 kam der Befehl zur Evakuierung in die Stadt Tsushima im Nordwesten. Dabei wurden die Flüchtlinge in die unsichtbare radioaktive Wolke hineingeschickt und stärker verstrahlt, als wenn sie zuhause geblieben wären. Die Beamten in Tokio wussten dies aufgrund ihrer Computer-Prognosen genau. Sie schwiegen aber, weil sie eine Panik befürchteten.
Auch wegen dieser traumatischen Erfahrung sammelt Namie möglichst viele Daten über die Strahlenfolgen selbst, berichtet der örtliche Gesundheitschef Norio Konno. "Wir wollen die Kontrolle über die Gesundheit unserer Einwohner behalten", sagt er. Falls man von Tepco eine Entschädigung verlangen müsse, brauche man gerichtsfeste Belege. Daher hat Namie auf eigene Kosten einen Ganzkörper-Scanner angeschafft, der in der Evakuierten-Siedlung in Nihonmatsu steht. Alle unter 40-jährigen Evakuierten können sich darin einmal pro Jahr auf Cäsium 134 und 137 untersuchen lassen. Der Staat bietet dies nur alle zwei Jahre an.
"Strahlenopfer haben keine Zukunft"
Jeder zweite Einwohner von Namie nimmt bisher diese Extra-Untersuchung wahr. Manche verweigern die Teilnahme jedoch bewusst. Die Angestellte Kazue Yamagi erzählt von ihrer 21-jährigen Tochter, die ihre Schilddrüse nicht untersuchen lassen will. "Sie ist aus Fukushima weggezogen und meidet alle TV-Nachrichten", sagt ihre Mutter mit Trauer in der Stimme. "Sie will auch nicht heiraten. Sie sagt, als Strahlenopfer habe sie keine Zukunft mehr." So abwegig ist dieser Gedanke nicht.
Die Hibakusha, wie die Strahlenopfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki heißen, grenzt man samt Nachkommen bis heute in Japan aus. Deswegen müsse es auch für die verstrahlten Evakuierten von Fukushima ein Unterstützungsgesetz geben, so wie für die Atombombenopfer, fordert Gesundheitschef Konno: "Auch die Leute von Namie fühlen sich wie Hibakusha, wie Strahlenopfer. Ihre verstrahlten Gene werden noch über Generationen vererbt."
Glück im Unglück?
Konno hat daher Strahlenpässe an alle Einwohner verteilt, wie sie auch in Hiroshima und Nagasaki benutzt werden. In dem Pass erinnert zum Beispiel eine Spalte für Krebsvorsorge an die Untersuchung auf Blutkrebs.
Unter 3200 jungen Namie-Bewohnern hat es bisher zwei Fälle von Schilddrüsenkrebs gegeben. Diese Zahl hat den Strahlenexperten Shinji Tokonami von der Universität Hirosaki, der die Stadt Namie berät, überrascht. "Das ist höher als erwartet. Möglicherweise liegt dies aber an der großen Präzision der Untersuchungsgeräte." Man müsse fünf Jahre warten und dann noch einmal fünf Jahre, betont der Experte. "Dann können wir etwas sagen."
Doch eine eigene These hat er bereits jetzt: Eigentlich müsste es sogar noch mehr Fälle von Schilddrüsenkrebs geben, als bisher aufgetreten sind. Doch die Küstenbewohner würden viel jodhaltigen Seetang essen, so Tokonami. Daher war in den Schilddrüsen vieler junger Leute nur wenig Platz für das strahlende Jod, das die Atomanlage über Fukushima schleuderte.