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Stolpersteine der Demokratie

10. Juli 2011

Tunesien will demokratisch werden. Doch so einfach geht das nicht: Die Angst vor dem alten Regime ist so groß wie die Skepsis vor der Zukunft und den Islamisten.

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Ein Tunesier küsst die tunesische Flagge (Foto: AP)
Sind die Tunesier bereit für Demokratie?Bild: AP

"Ich wünsche mir ein Tunesien für alle Tunesier. Ich wünsche mir ein Tunesien, welches das Recht auf Unterschiede respektiert." Der 62-jährige Moncef Louhabi gerät ins Schwärmen, wenn er sich die Zukunft seiner Heimat Tunesien ausmalt. Er träumt von Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und einer pluralistischen Gesellschaft. Noch vor wenigen Monaten hätte er nicht gedacht, dass das irgendwann einmal möglich sein könnte. "Wir haben zwar schon lange gegen das diktatorische Regime gekämpft", sagt er. "Aber wer hätte gedacht, dass wir am 14. Januar den Sturz von Ben Ali erleben würden?"

Unübersichtliche Parteienlandschaft

Louhabi unterrichtet an der Universität von Kairuan Literaturwissenschaft. Er ist zudem Mitglied in der Partei "Ettajdid", zu Deutsch "Erneuerung". Sechs Monate sind vergangen, seit sich der Obsthändler Mohamed Bouazizi selbst in Brand setzte und damit die Revolution entfachte. Nach wochenlangen Protesten floh Tunesiens Diktator Ben Ali ins Ausland, und in vielen arabischen Ländern begann der so genannte arabische Frühling.

Demonstranten tragen den Slogan 'RCD OUT' (Foto: AP)
Ist die RCD wirklich weg?Bild: AP

Doch in Tunesien herrscht noch keine Demokratie. Die für Juli angesetzte Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung wurde auf Ende Oktober verschoben. Unter anderem aus logistischen Gründen, sagt die Journalistin und Tunesien-Expertin Sarah Mersch. Die Parteienlandschaft sei sehr unübersichtlich. Es gibt inzwischen fast 100 Parteien, die nach der Revolution gegründet wurden. "Viele Tunesier wissen gar nicht, welches Programm diese Parteien haben und wen sie eigentlich wählen sollen", sagt Mersch.

Inzwischen wurde das Wahlgesetz verabschiedet. Die Wahlbezirke wurden aufgeteilt und man hat sich für das Verhältniswahlrecht entschieden. Allerdings sind knapp drei Millionen der zehn Millionen Tunesier noch nicht auf den Wählerlisten eingetragen. Es gibt also noch eine Menge zu tun, in dem Land, das seit 1956 nur Erfahrung mit dem Einparteienstaat gemacht hat. Der CDU-Abgeordnete Joachim Hörster, der auch Mitglied in der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft ist, ist der Meinung, die Parteien sollten sich überlegen, ob es nicht besser sei ,Wahlbündnisse zu schmieden. So könne am Schluss zwischen vier oder fünf politischen Richtungen entschieden werden.

Welche Chance haben die Islamisten?

Rachid Ghannouchi (Foto: DPA)
Rachid Ghannouchi ist der Parteivorsitzende er Ennahda-ParteiBild: picture alliance/abaca

Der Favorit für den Wahlsieg wäre Umfragen der Firma Sigma zufolge die islamistische "Ennahda-Partei" mit 15 Prozent. Besonders viel Rückhalt erhält die Ennahda in ärmeren Vororten. Ennahda sei eine gemäßigte islamistische Partei, so der Parteivorsitzende Rachid Ghannouchi, die einen freien demokratischen Staat vorantreiben will. Joachim Hörster warnt allerdings vor solchen Worten: "Herr Ghannouchi muss sich erheblich winden, um auf der einen Seite bei den Islamisten noch gehört zu werden und auf der anderen Seite den zivilen Anschein aufrecht zu erhalten."

Genau wegen dieses zivilen Charakters Tunesiens macht sich Moncef Louhabi von der Ettajdid-Partei keine Sorgen, dass die Islamisten an die Macht kommen könnten. Die Tunesier seien moderat und wollten die Modernität ihres Landes nicht aufs Spiel setzen. "Frauenrechte und Bildung gehören jetzt zu unseren Grundsätzen", sagt er. "Es gibt zum Beispiel keinen Tunesier, der an die Polygamie denkt. Die Salafisten tun das, aber nicht die tunesische Jugend."

"Ettajdid" war ehemals eine kommunistische Partei und hat sich heute als Linke neu erfunden. Sie hat nach eigenen Worten eine moderne, fortschrittliche Front mit einem Dutzend anderer Parteien gebildet, um den Islamisten entgegenzutreten.

Die Zukunft des Landes

Sarah Mersch (Foto: DW)
Sarah Mersch ist Journalistin in TunesienBild: DW

Derzeit machten sich die Tunesier vor allem Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft ihres Landes, so Louhabi. Bis Ende Mai hat sich die Zahl der Arbeitslosen auf 700.000 erhöht. Manche Beobachter gehen davon aus, dass bis zum Sommer die Millionengrenze überschritten wird. Außerdem seien die Menschen frustriert, denn es habe sich nicht viel geändert, sagt die Tunesien-Expertin Sarah Mersch. Überall würde ständig gestreikt.

Die Wahl im Oktober wird von Regierungsseite als entscheidendes Vertrauenszeichen gegenüber inländischen und ausländischen Investoren gesehen. Zudem hat die internationale Gemeinschaft Überweisungen weiterer Hilfsgelder in Höhe von fünf Milliarden Euro für die Zeit nach den Wahlen angekündigt. Die Verfassungsgebende Versammlung soll Stabilität bringen, in einem Land, in dem politische Ungewissheit herrscht.

Seit Ben Alis Flucht hat Tunesien eine Abfolge brüchiger Interimsregierungen und Ausgangssperren erlebt. Außerdem haben viele Menschen immer noch das Gefühl, dass die alte Garde im Hintergrund mit die Fäden zieht. Anhänger der alten RCD-Partei Ben Alis finanzieren derzeit sogar neue Parteien. Die Menschen haben Angst davor, dass man ihnen ihre Revolution stehlen könnte. Deutschland könne aber mithelfen, dass das nicht geschieht, so Hörster. Die Tunesier haben bereits Interesse am deutschen Grundgesetz bekundet. Daher hat die Bundesregierung ihnen einige französische Versionen zukommen lassen. Derzeit wird noch darüber entschieden, ob Tunesien ein parlamentarisches System wie Deutschland erhalten soll oder ein Präsidialsystem nach dem französischen Modell. "Wir sollten uns davon fernhalten, von uns auf die Tunesier zuzugehen und ihnen zu sagen, was sie wie am besten machen sollten", sagt Hörster. Deutschland wolle auf gleicher Augenhöhe im Kontakt mit der tunesischen Reformbewegung sein und die Menschen nicht bevormunden.

Auch wenn sich das Land derzeit in einem Zustand der Ernüchterung befindet, sind sich die Tunesier bewusst darüber, welche Chance sich ihnen gerade bietet. Ist Tunesien also bereit für die Demokratie? Moncef Louhabi ist zuversichtlich, auch wenn sich die Tunesier noch nicht an demokratische Verhältnisse gewöhnt hätten: "Wir haben mehr als 50 Jahre unter der Verantwortung eines diktatorischen Regimes gelebt. Wir brauchen Zeit. Aber wir werden Demokratie lernen, so wie man das Schwimmen erlernt."

Tunesische Flüchtlinge auf dem Weg nach Italien (Foto: DPA)
Viele junge Tunesier verlassen das Land, weil die Arbeitslosigkeit so hoch istBild: picture-alliance/dpa

Autorin: Diana Hodali
Redaktion: Daniel Scheschkewitz