Stiko: Was zählt die Stimme der Wissenschaft?
2. August 2021Der Chef der "Ständigen Impfkommission" Thomas Mertens hat im aktuellen Streit mit der Politik seine Position noch einmal verteidigt. "Wir können nicht eine generelle Empfehlung aussprechen, solange wir nicht die notwendige Datensicherheit haben," sagte Mertens in einem Interview. Es gebe noch immer zu wenige Daten über mögliche gesundheitliche Folgeschäden für Zwölf- bis 17-Jährige. Es könne sein, dass die Empfehlung geändert werde. "Aber nicht, weil Politiker sich geäußert haben".
Wichtiger sei im Moment, eine hohe Impfquote bei 18- bis 59-Jährigen zu erreichen. Davon werde der Verlauf der vierten Welle "alles entscheidend" abhängen. "Die Impfung der Kinder ist zwar medienwirksam, aber aus epidemiologischer Sicht lange nicht so relevant."
Es ist nicht das erste Mal in der Corona-Pandemie, dass die gerne "Stiko" abgekürzte "Ständige Impfkommission" und die Politik unterschiedliche Positionen vertreten. Schon die Freigabe von Astra-Zeneca für alle Altersgruppen im Frühjahr hatte die Stiko so nicht empfohlen, ebenso wenig wie die von Johnson&Johnson: Diesen Impfstoff hatte die Stiko nur für Ältere empfohlen; die Politik ließ ihn aber auch für Jüngere zu.
Unabhängig - aber eng an die Politik gebunden
Die Stiko gibt es schon seit beinahe 50 Jahren. Sie wurde 1972 gegründet und gehörte damals zum Bundesgesundheitsamt. Das Bundesgesundheitsamt aber wurde 1994 aufgelöst - und die Stiko in der Folge an das Robert-Koch-Institut (RKI) angegliedert, also die Nationale Gesundheitsbehörde. Das Institut gehört zum Bundesgesundheitsministerium, dessen derzeitiger Chef Jens Spahn ist. Das RKI ist also nicht ganz unabhängig.
In Abstimmung mit dem Ministerium gab sich die Stiko eine eigene Geschäftsordnung - das letzte Update erfolgte im Jahr 2014. Darin ist festgehalten: Die Stiko nimmt auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft "eine medizinisch-epidemiologische Nutzen-Risiko-Abwägung vor und berücksichtigt Belange der praktischen Durchführung".
In der Regel befasst sich die Stiko nur mit Impfstoffen, die bereits zugelassen sind. Für Zulassungsfragen ist eine andere Einrichtung zuständig: das Paul-Ehrlich-Institut.
Die Stiko-Empfehlungen werden in einem "Epidemiologischen Bulletin" veröffentlicht, das Aktuellste stammt vom 8. Juli 2021. Darin wird eine Corona-Impfung für Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren nur unter bestimmten Bedingungen empfohlen: bei bestimmten Vorerkrankungen oder wenn es in der Familie oder im sonstigen Umfeld besonders gefährdete Menschen gibt, die sich selbst aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können. Für alle übrigen gibt es keine generelle Impf-Empfehlung. Wenn aber der Wunsch besteht und die Eltern einverstanden sind, wenn über die Risiken aufgeklärt wurde und dazu noch eine gewisse "Risikoakzeptanz" vorhanden ist, könne trotzdem geimpft werden.
Wissenschaft und Praxis
Die Kommission ist interdisziplinär besetzt. Im aktuellen 18-köpfigen Team fließen zum Beispiel Erfahrungen und Blickwinkel der Tropenmedizin, der Epidemiologie, der Virologie und Mikrobiologie ein. Viele Stiko-Mitglieder tragen einen Professorentitel. Aber auch die praktische Erfahrungen der Ärzteschaft und aus staatlichen Gesundheitsämtern ist gefragt, weshalb auch Medizin und Verwaltung eine Stimme haben.
Die 18 Mitglieder werden für drei Jahre vom Bundesgesundheitsministerium besetzt, in Abstimmung mit den Bundesländern - aktuell für die Jahre 2020 bis 2023. Die Arbeit ist ehrenamtlich. Die Mitglieder sind "nur ihrem Gewissen verantwortlich und zur unparteiischen Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet", wie die Geschäftsordnung besagt.
Die Empfehlungen der Stiko sind keine Gesetze, haben also keine rechtlich bindende Wirkung. Sie sind aber die zentralen Empfehlungen für die Behörden der Bundesländer. Damit in Hamburg in der Regel nicht etwas anderes gilt als in Bayern. Maßgeblich sind die Stiko-Empfehlungen für den "Gemeinsamen Bundesausschuss" zu Fragen der Krankenversicherung und Kostenübernahme.
Schutz des Einzelnen und Gefahrenabwehr für die Gemeinschaft
Seit 2001 gibt es in Deutschland ein Infektionsschutzgesetz. Dort wird das Aufgabengebiet der Stiko gesetzlich umschrieben: Die Stiko soll demnach Empfehlungen zur Durchführung von Impfungen, aber auch eine Einschätzung zur Verträglichkeit von Impfstoffen geben. Und zwar anhand von "Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung".
Seit Corona gibt es einen neuen Paragrafen im Infektionsschutzgesetz - §20, Absatz 2a. Dort werden der Stiko Vorgaben gemacht, wonach sich die Empfehlungen für die Corona-Pandemie zu richten haben: Reduktion schwerer Verläufe, Ausbreitung eindämmen, Schutz vulnerabler Gruppen - aber auch Fragen der Aufrechterhaltung zentraler staatlicher Funktionen.