Stichwort: Junge Flüchtlinge allein in Deutschland
19. Juli 2016Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben in Deutschland?
Ende Januar lebten mehr als 60.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland, die ohne einen Sorgeberechtigten als Flüchtling gekommen sind. So die Zahlen des Bundesfachverbands unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF). Demnach sind die meisten zwischen 16 und 17 Jahre alt.
Einer Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge gab es im vergangenen Jahr für knapp 14.500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland einen Asylantrag. Das waren mehr als dreimal so viele wie noch in 2014.
Woher kommen die Jugendlichen?
Die Hauptherkunftsländer waren im vergangenen Jahr Afghanistan, Syrien, Eritrea, Irak und Somalia. Von den Asylanträgen 2015 wurde jeder dritte Antrag für einen Minderjährigen aus Afghanistan gestellt und fast jeder vierte für einen aus Syrien.
Was passiert mit ihnen, wenn sie in Deutschland ankommen?
Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge werden die Minderjährigen zuerst beim Jugendamt in Obhut genommen. Das Amt vermittelt die Unterkunft bei Verwandten, Pflegefamilien, Jugendhilfeeinrichtungen oder in sogenannten Clearinghäusern, die auf unbegleitete Minderjährige spezialisiert sind. Innerhalb von 14 Tagen werden sie in dann theoretisch deutschlandweit verteilt.
Das Jugendamt beantragt für sie auch eine Vormundschaft. Wer diese übernehmen darf, entscheidet ein Familiengericht. Bei der Vormundschaft gilt übrigens das Recht des Herkunftslandes. Wird man dort offiziell erst später volljährig - zum Beispiel wie in Togo mit der Vollendung des 21. Lebensjahres - dann endet auch die Vormundschaft erst dann.
Nach der Aufnahme wird auch der Aufenthaltsstatus geklärt. Laut dem BAMF verzichtet ein großer Anteil Minderjähriger oder der gesetzlichen Vertreter auf einen Asylantrag oder einen anderen aufenthaltsrechtlichen Weg, zum Beispiel eine Duldung.
So sieht das in der Theorie aus. In der Realität gibt es bei dem Verfahren aber viele Probleme. Niels Espenhorst, Referent beim BumF, sagte im DW-Interview, dass es zum Beispiel viel zu lange dauere, bis die Vormundschaft geklärt sei. Erst danach könne dann auch ein Asylantrag gestellt werden. Das führe zu Unsicherheit und Frustration. Nach seiner Erfahrung kommt es auch immer wieder vor, dass ältere Jugendliche in normalen Flüchtlingsunterkünften unterkommen - anstatt in kleineren, auf Minderjährige spezialisierte Einrichtungen.
Woher weiß man, dass sie minderjährig sind, wenn sie keine oder gefälschte Papiere haben?
Das Jugendamt stellt das Alter fest. Wenn es an der Echtheit des vom Flüchtling angegebenen Alters zweifelt, setzt das Jugendamt unterschiedliche Methoden ein. Das geht von der reinen Altersschätzung, bei der auch das Verhalten und die Psyche eine Rolle spielen, über eine körperliche Kontrolle bis zu radiologischen Untersuchungen des Gebisses oder des Schlüsselbeins. Auf Röntgenaufnahmen der Handwurzel kann man erkennen, wie sehr die Wachstumsfuge schon geschlossen ist. Laut Experten gibt aber keine wissenschaftliche Methode, mit der man das Alter eindeutig bestimmen kann. Es bleibt ungenau.
Der Fall Würzburg: Werden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge systematisch vom sogenannten Islamischen Staat (IS) angeworben?
Das Bundesamt für Verfassungsschutz teilte der Deutschen Welle mit, dass er keine Erkenntnisse darüber habe, dass der IS gezielt unbegleitete Minderjährige anspricht. Laut einer Sprecherin gibt es aber insgesamt mehr als 300 Hinweise von Kontaktaufnahmeversuchen von Islamisten allgemein zu Flüchtlingen im Umkreis von Flüchtlingsheimen.
"Radikalisierung ist bei uns kein großes Thema", sagt Jürgen Soyer, Geschäftsführer von Refugio München, einem Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer. Laut eigener Schätzung waren bei Refugio rund 180 minderjährige Flüchtlinge in Psychotherapie. "Es kommt ab und zu vor, dass Jugendliche unsicher sind, wo ihr Platz auf dieser Welt ist. Das ist bei deutschen Jugendlichen aber genauso", so Jürgen Soyer. Vor allem bei den jungen Flüchtlingen kommen dann aber noch die Erinnerungen von der Flucht hinzu. "Wenn sie das Gefühl bekommen, einen vollwertigen Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können und gut begleitet werden, dann sind sie auch nicht anfällig für Radikalisierung", so Jürgen Soyer von Refugio München.