Österreich: Links oder rechts?
22. Mai 2016Der Himmel über Wien ist blau. Die Freibäder sind gut besucht. 30 Grad im Schatten. Bei diesem Kaiserwetter könnte die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl für das Amt des Staatsoberhaupts geringer ausfallen, weil die Wähler lieber die Sonne genießen als in eines der 10.000 Wahllokale zu gehen.
Ein Teil der Wahllokale hat am Mittag wieder geschlossen, besonders in den abgelegenen Alpentälern und auf dem Land. Da werden bereits die Stimmen ausgezählt. Um 17 Uhr schließen die letzten Stimmbezirke in der Hauptstadt Wien. Unmittelbar danach gibt es die erste Hochrechnung und es dürfte feststehen, wer an diesem bisher heißesten Tag des Jahres die rekordverdächtige Wahl gewonnen haben wird: der rechtspopulistische FPÖ-Vize Norbert Hofer oder der grüne Politiker Alexander Van der Bellen, der als unabhängiger Kandidat antrat.
Dass es trotz des schönen Wetters eine hohe Wahlbeteiligung geben könnte, darauf lässt die Ausgabe von Briefwahlunterlagen schließen: 880.000 sogenannte Wahlkarten wurden beantragt - so viele wie noch nie. Rund 6,4 Millionen Österreicher sind wahlberechtigt. Sollte es ein knappes Ergebnis geben, dann könnten die Briefwahlstimmen entscheidend sein. Dann würde das Endergebnis erst am Montag feststehen.
Wird die "kopflose" Alpenrepublik blau?
In den letzten Wochen habe Österreich einen "kopflosen" Eindruck gemacht, schreibt das Nachrichtenmagazin "Profil" in seiner Ausgabe zur Schicksalswahl. Die regierende große Koalition aus Sozialdemokraten (SPÖ) und Konservativen (ÖVP) hat nur eine Woche vor der Stichwahl den Bundeskanzler ausgetauscht und einen "Neustart" hingelegt.
Das könnte die Wähler dazu veranlassen, vielleicht doch nicht mehrheitlich auf den Rechtspopulisten Hofer zu setzen, der mit nationalen Sprüchen und Europa-Kritik punktet. Im ersten Wahlgang erzielte Hofer überraschend 35 Prozent, entgegen aller Wahlprognosen. Die bürgerliche Mitte aus SPÖ und ÖVP verschwand in der Versenkung.
Für die zweite Runde haben die Meinungsforscher auf Umfragen verzichtet. Wenn man Menschen auf der Straße in Wien fragt, kann man jede Meinung hören: Vom Erdrutschsieg für den grünen Van der Bellen bis zum Erdrutschsieg für Hofer oder auch einem Patt ist alles dabei. Die Zeitung "Österreich" zieht den Schluss: Alles ist offen, nichts mehr vorsehbar.
Harter Wahlkampf spaltet das Land
Im Wiener Straßenbild taucht auf Plakaten hauptsächlich der 72 Jahre alte Alexander van der Bellen auf. Die Stadt wird wohl mehrheitlich den Unabhängigen wählen, der einst Vorsitzender der Grünen war und im Wahlkampf versuchte, staatsmännisch väterlich aufzutreten.
In den ländlichen Region liegt eher Norbert Hofer vorne. Er ist mit 45 Jahre der jüngste Kandidat, der jemals Bundespräsident werden wollte - wieder ein Rekord. Hofer hat angekündigt, die Rechte eines Bundespräsidenten voll auszunutzen und aktiv in die Tagespolitik einzugreifen. In den österreichischen Medien wird spekuliert, dass Hofer möglichst schnell Neuwahlen und eine Regierungsübernahme durch die "Blauen" herbeiführen will. Blau ist die Parteifarbe der rechten FPÖ, die nach Umfragen heute stärkste Kraft im Parlament würde.
Die Quittung für diesen Kurs: Auf vielen Plakaten in Wien trägt Hofer inzwischen ein "Hitler-Bärtchen". "Keine Nazis in die Hofburg" ist die Parole seiner Gegner. Van der Bellen, der für mehr Europa plädiert, muss sich dagegen den Vorwurf gefallen lassen, er fördere "Multikulti" und Islamismus. Im Wahlkampf griffen sich beide Kandidaten ständig persönlich an. Fernsehdiskussionen gerieten zu peinlichen Possen. Beide wirkten nicht sonderlich präsidentiell.
Starkes Interesse im Ausland
Über 170 internationale Medien werden an diesem Sonntag aus der Wiener Hofburg, dem Amtssitz des Präsidenten, berichten. Auch das ein Rekord: So viel Interesse an der früher eher spannungslosen Wahl des Staatsoberhaupts gab es noch nie.
Die Kommentatoren sind sich einig, dass der Sieg Hofers ein politisches Erdbeben nicht nur für Österreich, sondern für die ganze EU wäre. Einen Austritt aus der EU befürwortet er nicht mehr, aber er will Österreich stärker machen und der EU Kompetenzen abnehmen. Die Rechtsnationalen in Frankreich, Ungarn oder Polen würden jubeln. Auch die Austrittskampagne in Großbritannien, wo in einem Monat über den "Brexit" abgestimmt wird, dürfte Rückenwind verspüren. Die New York Times mahnte in einem Leitartikel: "Österreichs Wahl ist eine Warnung für den Westen."