Sterbehilfeverbot wird gelockert
26. Februar 2020"Wenn ich den Schmerz nicht mehr aushalte, möchte ich gehen dürfen", bittet Melanie S. den Mediziner Lukas Radbruch an der Universitätsklinik Bonn-Venusberg. Die 63-Jährige leidet an Lungenkrebs in einem weit fortgeschrittenen Stadium. Was ihr besonders zu schaffen macht, ist die Angst, plötzlich nicht mehr schlucken zu können und dann einfach zu ersticken. Das möchte sie bei vollem Bewusstsein nicht erleben. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts traut sich Melanie die Möglichkeit einer ärztlich begleiteten Selbsttötung offen anzusprechen.
Eine solche Sterbehilfe aber verbot bisher der Paragraf 217 des deutschen Strafgesetzbuches. Dieses Gesetz schuf der Bundestag im Dezember 2015, um Vereinen oder auch Einzelpersonen "ein Geschäft mit dem Tod" zu verbieten. Vor Jahren erlebten solche Angebote einen wahren Boom. Die Politik wollte darauf reagieren. So hieß es bisher im Gesetz: "Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." Über den Begriff "geschäftsmäßig" stritten Juristen heftig. Denn "geschäftsmäßig" und damit strafbar sollte schon die "auf Wiederholung gerichtete Beratung" zur Sterbehilfe sein. Schon ein Hinweis auf ein "Sterbefasten" durch Verzicht auf Nahrung hätte strafbar sein können. So sollte es nicht weitergehen, befanden die Richter des zweiten Senats im Bundesverfassungsgericht. Denn die Folgen der vergangenen vier Jahre waren gravierend.
Reise zum Sterben
Es zogen sich nicht nur die bis 2015 öffentlich aufgetretenen Sterbehelfer mit ihren Angeboten zurück, es trauten sich viele Ärzte oder Bedienstete in deutschen Hospizen nicht einmal mehr, Beratungsgespräche zu dem Thema Sterbebegleitung zu führen. Sterbewilligen Todkranken blieb nur noch eine Reise zu entsprechenden Angeboten in die Schweiz, in die Niederlande oder nach Belgien. Dort ist Sterbehilfe durch Dritte erlaubt.
Wer mangels eigener Kraft oder mangels Geld diese Reisen nicht antreten konnte, dem blieb nur noch, einen Familienangehörigen zu bitten, beim Suizid zu helfen. Familienangehörige, die sich dazu bereit erklärten, blieben dafür straffrei. Aber welcher Sterbenskranke würde seine Angehörigen mit einer solchen Bitte belasten wollen?
Eine Zumutung, empfanden viele Betroffene und blieben sich selbst überlassen. Patienten und Mediziner reichten Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ein. Das machte sich die Entscheidung nicht leicht. Bereits im vergangenen Jahr hörten die Richter viele Mediziner, Vertreter von Sterbehilfe-Vereinen und betroffene todkranke Patienten an, um ihre Erfahrungen und Argumente kennen zu lernen. Unter den beteiligten Juristen ist auch der Münchner Medizinrechtler Wolfgang Putz. Er spricht gegenüber der DW von unhaltbaren Zuständen, die dringend neu entschieden werden mussten: "Der Einfluss der beiden großen Kirchen in Deutschland auf Entscheidungsträger in der Politik ist nach wie vor sehr groß, obwohl wir angeblich ein säkularer Staat sind."
Die evangelische und katholische Kirche sind gegen jede Form aktiver Sterbehilfe. Es sei gut, dass das Bundesverfassungsgericht als höchste juristische Instanz in Deutschland jetzt die im Grundgesetz garantierte Selbstbestimmung des Einzelnen am Lebensende neu regelt, so Putz.
Möglichkeiten der Palliativmedizin zu wenig bekannt
Der von Melanie S. angesprochene Mediziner Lukas Radbruch hört ihr lange Zeit intensiv zu. Viel Verständnis ist jetzt entscheidend, weiß Radbruch, der gleichzeitig Präsident der deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ist. Für Medizin also, die Schmerzen lindern will, wenn keine Heilung mehr möglich ist. Er hat die Erfahrung gemacht, dass die Frage nach Sterbehilfe oftmals ein Hilferuf ist, eine Hoffnung "auf einen Notausgang". Wenn er dann ein Angebot machen konnte, im Rahmen schmerzlindernder "Sedierung" zu helfen, wurde das in den meisten Fällen gerne angenommen. "Wenn wir durch das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dem möglichen Wegfall des Paragraf 217, jetzt eine erneute Motivierung für Sterbehelfer erfahren sollten, bedeutet das eine gefährliche Entwicklung unserer Gesellschaft", sagt Radbruch. Er fürchtet, dass viele Sterbenskranke verstärkt sagen würden, dass sie niemandem zur Last fallen wollen. Es dürfe aber keine Drucksituation aufgebaut werden können. Und die Hemmschwellen, das Leben selbst zu beenden, dürften auf keinen Fall absinken.
Die neue Regelung der Sterbehilfe
"Der Paragraf 217 ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar", so formulierte es am Mittwoch der Vorsitzende Richter des 2. Senats am Bundesverfassungsgericht. Dadurch, dass der Paragraf 217 nicht mehr gilt, ist die Sterbehilfe wie vor dem Jahr 2015, also in den alten Grenzen möglich. Ärzte könnten also über Sterbehilfe aufklären und passive Sterbehilfe leisten, also ein tödliches Medikament zur Verfügung stellen.
Darauf baut jetzt auch Harald Mayer. Er leidet unter Multipler Sklerose. Seit Jahren schwinden bei ihm immer mehr Muskeln. Inzwischen kann er nur noch mit seinem Mund seinen Rollstuhl steuern und bewegen. Es sind sieben bis acht Assistenten im Schichtdienst notwendig, um den 49-jährigen ehemaligen Feuerwehrmann auf der US-amerikanischen Air-Base in Ramstein ein- und auszukleiden, ihm Essen zu reichen oder ihm bei seiner Notdurft zu helfen. Diesen Punkt empfindet Mayer als besonders entwürdigend."Bei vollem geistigen Bewusstsein wird mir mein Körper ein immer engeres Gefängnis", beschreibt Mayer seine Situation. Er empfindet diesen Verlust seiner Autonomie als unerträglich. Fast jeden Tag bleibt ihm nicht viel mehr, als nur noch an die Decke zu starren. Er hofft nunmehr auf Erlösung, auf jemanden, der ihm Sterbehilfe bietet, denn Mayer sagt eindeutig: "Ich will so nicht mehr." Seine Vorstellung von einem "friedlichen Einschlafen" zuhause - in vertrauter Atmosphäre - könnte durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jetzt möglich werden.
Gesundheitsminister verhinderte die Vergabe von tödlichen Medikamenten
Zudem könnte aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen Paragraf 217 noch ein weiterer Prozess zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes im Sinne von Harald Mayer folgen.
Denn Mayer hatte beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn als Schwerstkranker einen Antrag gestellt auf die Vergabe des als relativ sicher und schmerzfrei geltenden Mittels Natrium-Pentobarbital (NaP), das in der Schweiz in der Sterbehilfe verwendet wird.
Obwohl das Verwaltungsgericht in einem Urteil festhielt, dass Schwerstkranke einen Anspruch auf dieses Barbiturat haben, wies Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Bundesbehörde an, keinem Antrag auf tödliche Medikamente stattzugeben. Damit setze er sich über die geltende Rechtsprechung hinweg, sagen Kritiker.
Professor Robert Roßbruch, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS), vertritt Mayer und kündigt jetzt schon an, wenn Mayer die Selbsttötung weiterhin versagt bleibt, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen. "Der Paragraf 217 verstößt nach meiner Rechtsauffassung eindeutig gegen die Europäische Menschenrechtskonvention."
Mittelalterliches Denken?
Denkweisen wie vor der Aufklärung warf einer der in Deutschland bekanntesten Sterbehelfer der Politik und den Verantwortlichen im Gesundheitswesen vor. "Wie können Leute, die selbst nie von einer schweren Krankheit betroffen waren, sich erdreisten, zu beurteilen, ob ein Leben noch lebenswert erscheint oder nicht ?" fragte Uwe-Christian Arnold immer wieder. "Wenn sterbenskranke, aber geistig noch absolut fitte und autonom denkende Menschen wünschen zu sterben, dann sollten sie eine Möglichkeit erhalten, ihr Ende in einem würdevollen Prozess selbst zu gestalten."
Dafür setzte sich Arnold, Berliner Facharzt für Urologie, seit Mitte der 1990er Jahre aktiv ein. Er riskierte, seine Zulassung zum Arztberuf zu verlieren, weil er mit seiner Sterbehilfe gegen den Berufseid verstieß, stets Leben zu fördern, statt es zu beenden.
Arnold gewann allerdings jeden gegen ihn angestrengten Prozess und begleitete nach eigenen Aussagen bundesweit über 100 Menschen nach intensiven Recherchen und Gesprächen zum geistigen Zustand "seiner Patienten" in den von ihnen gewünschten Tod.
Dazu zählte auch Ingrid Sander, deren Sohn einmal über Arnold sagte, er sei lange Zeit die beste Lebensversicherung seiner Mutter gewesen. Alleine das Versprechen Arnolds, ihr in den Tod zu helfen, wenn die Schmerzen ihrer bereits im Alter von fünf Jahren erworbenen Kinderlähmung zu unerträglich würden, sei für sie sehr beruhigend gewesen.
Bis zuletzt kämpfte Ingrid tapfer. Dann wurden die Beschwerden so stark, dass sie befürchtete, ein angereichtes Todesmedikament nicht mehr selbst einnehmen zu können, wie es die passive Sterbehilfe bis 2015 erlaubte. Schließlich bat sie ihren Sohn, einen angelieferten Medikamentenmix anzurichten. Monate vorher hatten sie viel darüber gesprochen und sich ausreichend Zeit für den Abschied gelassen. In den letzten Minuten begleitete ein Kamerateam die beiden. Ingrid bat noch um eine heitere Musik aus der Wiener Klassik, umarmte lange ihren Sohn. Dann wurde es still. Am nächsten Tag erzählt er: "Mir fiel es sehr schwer, meine Mutter gehen zu lassen. Aber leiden sollte sie nicht. Es war ihr Wunsch zu gehen." Und: "Meine Mutter sah sehr glücklich aus, als sie schließlich friedlich eingeschlafen war."
Sterbehelfer Arnold
Er war einer der Beschwerdeführer gegen den Paragrafen 217. Er sollte vor dem Bundesverfassungsgericht in einer Anhörung im April 2019 ein fünfminütiges Statement abgeben und über seine berufliche Praxis berichten. Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle persönlich hatte sich für Arnolds Aussage eingesetzt und war besonders daran interessiert, zu erfahren, in welcher Lebenssituation Patienten Suizidwünsche äußern und wie damit umgegangen wird. Doch dazu kam es nicht mehr. Arnold litt an Knochenkrebs und verstarb vor dem Prozess. Allerdings durfte Arnolds Anwalt eine Stellungnahme vorlesen. Arnold hatte nie damit gerechnet, dass das Bundesverfassungsgericht den Paragraf 217 wirklich kippen könnte. Nun ist genau dies geschehen. Nicht um Sterbehelfern ihr Geschäft zu erleichtern oder Suizid alltäglich werden zu lassen, sondern um sterbewilligen Todkranken nach Ende aller Heiltherapien eine Möglichkeit zu geben, in Würde ihr Leben zu beenden. Alle Beteiligten sprechen von einem historisch bedeutsamen Urteil.
Dieser Artikel wurde nach der Urteilsverkündung um zehn Uhr MEZ am 26. Februar 2020 aktualisiert.
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org