Bandera: Ukrainischer Held oder Nazi-Kollaborateur?
19. Mai 2022"Unser Vater ist Bandera, die Ukraine ist die Mutter. Wir werden für die Ukraine kämpfen!" Eine junge Frau in Tarnuniform und mit einem Maschinengewehr singt dieses Lied in einem Video, das die ukrainischen Verteidiger von Mariupol Anfang Mai in sozialen Netzwerken verbreitet haben. Aufgenommen wurde das Video offenbar in einem Bunker des Asow-Stahlwerks, dem letzten Ort des ukrainischen Wiederstands gegen die russische Truppen in der Stadt. Es waren auch Kämpfer des Regiments "Asow" dort, das von radikalen Nationalisten gegründet worden war und später dem ukrainischen Innenministerium unterstellt wurde.
Der vor mehr als 60 Jahren von sowjetischen Geheimdiensten in der Bundesrepublik getötete Stepan Bandera ist wohl der bekannteste ukrainische Nationalist. Sein Name wurde zu einem Symbol - lange vor dem offenen Krieg, den Russland seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt.
Bandera ist ein Held und Vorbild für einen Teil der ukrainischen Gesellschaft. Die russische Propaganda stellt ihn als Feind dar, gegen dessen Anhänger man seit Jahrzehnten kämpft. Für russische Militärs ist sein Name eine Art Hinweis oder Merkmal, um regelrecht Jagd auf Ukrainer in den besetzten Gebieten zu machen. Ukrainische Medien sind voll von Augenzeugenberichten darüber, wie die Russen Bandera-Anhänger unter ukrainischen Kriegsgefangenen und Zivilisten gesucht haben. Wer als solcher eingestuft wird, muss mit Folter oder Tod rechnen. Als Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner Rede am 9. Mai auf dem Roten Platz den Krieg gegen die Ukraine rechtfertigte, sprach er von einer unvermeidbaren Konfrontation mit "Neonazis, Banderisten".
Bandera – Leben und Tod eines radikalen Kämpfers
Banderas Leben ist eng verbunden mit der Westukraine, die damals Teil von Polen und Österreich-Ungarn war. Geboren wurde er 1909 als Sohn eines Priesters im Dorf Staryj Uhryniw, heute im Gebiet Iwano-Frankiwsk. Bandera studierte in Lwiw (Lemberg) und schloss sich der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an, die im Untergrund für Unabhängigkeit kämpfte. In den 1930er Jahren wurde Bandera als Mitorganisator politischer Morde in Polen verurteilt und kam erst nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs frei. Bald darauf gab es eine Spaltung in der OUN, wobei sich Bandera an die Spitze des radikaleren Flügel stellte (OUN-B). Während sich Nazi-Deutschland auf den Überfall auf die Sowjetunion vorbereitete, schlossen sich Bandera-Mitstreiter der deutschen Führung mit zwei ukrainischen Bataillonen an: "Nachtigall" und "Roland".
Ein Schlüsselereignis in Banderas Leben fand am 30. Juni 1941 statt. Seine Mitstreiter riefen in dem von Nazis besetzten Lwiw einen unabhängigen ukrainischen Staat aus. Bandera war in dieser Zeit im besetzten Polen, die Deutschen hatten ihm nicht erlaubt, in die Ukraine zu reisen. Hitler lehnte die Idee der ukrainischen Unabhängigkeit ab, Bandera wurde verhaftet und verbrachte fast den ganzen Krieg, bis 1944, im KZ Sachsenhausen. Seine OUN-B kämpfte weiter in der Ukraine für die Unabhängigkeit - mit Hilfe des militärischen Arms, der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA). OUN-B-Kämpfer wurden von den Nazis und von den Sowjets verfolgt und getötet. Bandera lebte nach dem Krieg in München, wo er 1959 von einem KGB-Agenten mit Zyankali getötet wurde.
Bandera-Kult in der heutigen Ukraine
Nach dem Attentat wurde Bandera von ukrainischen Emigranten im Westen verehrt. Der Kult um ihn entstand nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Westukraine, wo Museen, Denkmäler und Straßen an ihn erinnern. Bürger in anderen Teilen der Ukraine, vor allem im Osten, blieben jedoch bei der sowjetischen Geschichtsschreibung, die ihn ausschließlich als Nazi-Kollaborateur sah. Ihre Einstellung zu Bandera war negativ. Unter dem prowestlichen ukrainischen Politiker Viktor Juschtschenko, der 2005 Präsident wurde, wurde Bandera der Titel "Held der Ukraine" verliehen. Sein Nachfolger, der prorussische ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, ließ den Titel aberkennen.
Banderas Anhänger ziehen jedes Jahr an seinem Geburtstag mit einem Fackelzug durch die Hauptstadt. 2016 wurde der Straßenname Moskau-Prospekt in Kiew in Bandera-Prospekt umbenannt. Die Einstellung zu der historischen Person wurde immer positiver, allerdings war die Gesellschaft vor dem Krieg gespalten. Eine Umfrage der Stiftung "Demokratische Initiative" stellte im April 2021 fest, ein Drittel der Ukrainer (32 Prozent) werteten Banderas Tätigkeit als positiv, genauso viele - negativ.
Welche Ukraine Bandera wollte
Andreas Umland, Experte des Stockholmer Zentrums für Osteuropa-Studien, beschreibt den Bandera-Kult als "Ausdruck selektiver Erinnerung und Geschichtspolitik". Es werde daran erinnert, dass Bandera ein radikaler Kämpfer für die Unabhängigkeit gewesen sei, der in polnischer Haft und einem deutschen KZ saß und vom KGB ermordet worden sei. "Ausgeblendet wird, dass sowohl zu Beginn als auch zum Ende des Krieges (Zweiter Weltkrieg) zwischen der Bewegung, die Bandera angeführt hat, der OUN, aus verschieden Gründen eine Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich gab", sagt Umland in einem DW-Gespräch.
Es gebe in Fachkreisen zwei Erklärungen dafür, so Umland. Die einen meinen, diese Zusammenarbeit sei erzwungen gewesen, die anderen sprechen von einer ideologischen Nähe. Beides stimmt, sagt der deutsch-polnische Historiker von der Freien Universität Berlin und Bandera-Biograph, Grzegorz Rossolinski-Liebe. "Natürlich wollte Bandera einen ukrainischen Staat haben, aber er wollte einen faschistischen, einen autoritären Staat, in dem er der Führer sein wird", so Rossolinski-Liebe im Gespräch mit der DW.
Beide Experten verweisen auf eine weitere dunkle Seite in der Geschichte der Bandera-Bewegung - die Beteilung der OUN-Kämpfer an Morden von Zivilisten in Galizien und Wolynien, Juden und Polen. Allerdings sei Bandera selbst daran nicht beteiligt gewesen. "Die OUN haben sich der ukrainischen Polizei angeschlossen, 1941, und haben den Deutschen geholfen, in der Westukraine Juden zu ermorden", sagt Rossolinski-Liebe. Er habe keine Belege dafür gefunden, dass Bandera "ethnische Säuberungen" oder Morde an Juden und anderen Minderheiten unterstützen oder verurteilen würde. Wichtig sei jedoch, dass die Menschen aus OUN und UPA "sich mit ihm identifiziert haben".
Große Beliebtheit trotz Imageschaden
Für Umland war Bandera kein "Nazi", sondern ein "ukrainischer Ultranationalist". Der ukrainische Nationalismus jener Zeit sei "keine Kopie des Nazismus" gewesen, sagt Umland. Rossolinski-Liebe sieht es etwas anders: "Man kann Bandera einen radikalen Nationalisten, einen Faschisten nennen". Der deutsch-polnische Historiker widerspricht jenen ukrainischen Kollegen, die sagen, Banderas Anhänger hätten im gleichen Maß gegen Nazis wie gegen Sowjets gekämpft. "Die UdSSR war der wichtigste Feind der OUN", sagt Rossolinski-Liebe. Er verweist dabei darauf, dass das sowjetische Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD) einen brutalen Kampf gegen die ukrainischen Nationalisten geführt hat. Rund 150.000 Meschen seien getötet und mehr als 200.000 deportiert worden.
Wenn er über die "selektive Erinnerungspolitik" in der Ukraine spricht, erwähnt Umland, dass dies auch in anderen Ländern passiere. Als prominentestes Beispiel in Deutschland nennt er Martin Luther, nach dem eine Kirche und Straßen benannte werden, obwohl bekannt sei, dass er ein "Judenhasser" war.
Die Ehrung von Bandera schade dem Image der Ukraine, denn sie belaste das Verhältnis zu Polen und Israel, sagt Umland. Die Zurückhaltung Israels im jetzigen Krieg von Russland gegen die Ukraine sei eine der Folgen. Bei den Ukrainern scheint der Krieg einen radikalen Wandel im Bezug auf Bandera bewirkt haben. Forscher der Gruppe "Rating" stellten im April 2022 fest, 74 Prozent der Ukrainer würden die historische Person positiv sehen.