Steinmeier trifft Holocaust-Überlebende
25. April 2022"Als ich neun Jahre alt war, begann der Zweite Weltkrieg", erzählt Susana Neyman. "Und mit 90 Jahren muss ich wieder einen Krieg erleben." Die Dame mit den leuchtend weißen Haaren und der weißen Strickjacke erzählt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich ihr entgegenbeugt.
Neyman kommt aus der ukrainischen Millionenstadt Dnipropetrowsk, die seit einigen Jahren nur noch Dnipro heißt. Im Zweiten Weltkrieg, sagt sie, floh ihre Mutter mit ihr in den Nordkaukasus, dann, als die Armee Nazi-Deutschlands vorrückte, nach Kasachstan. "Wir haben irgendwie versucht zu überleben."
Im Bombenhagel
Eine andere Überlebende ist Swetlana Sabudkina, kaum jünger, in Kiew geboren. Sie erinnert sich, wie sie als Kind mit ihrer jüdischen Mutter in Charkiw "in den Bombenhagel gekommen" sei und dann im Ural überlebt habe. "Dort hat uns eine gutmütige Russin aufgenommen." Und sie erinnert auch noch die Nachkriegszeit in Kiew. Als deutsche Soldaten, Kriegsgefangene, am Aufbau der sehr zerstörten Stadt mitwirkten. Mit einem habe sie ihr Schulbrot geteilt, "er hat mir leidgetan".
"Mir bricht es das Herz, Menschen zu begegnen, die zweimal in ihrem Leben vor einem Krieg fliehen mussten und jetzt nicht wissen, ob sie jemals in ihre Heimat zurückkehren können", sagt Steinmeier. Er spricht an diesem Vormittag am östlichen Stadtrand von Berlin im "Haus der Parität" mit Holocaust-Überlebenden, denen die Flucht aus der Ukraine nach Deutschland gelungen ist. Sie sind alt, der eine geht am Stock, die andere braucht einen Arm zum Abstützen. Aber ganz aufmerksam folgen sie der Übersetzerin bei dem Gespräch.
"Putins Zynismus"
Steinmeier wirkt angefasst. Er spricht auch vom "wirklich bösartigen Zynismus", wenn der russische Präsident Wladimir Putin als Begründung für den Überfall die "Entnazifizierung" der Ukraine nenne - und man nun diese Menschen erlebe. "Ihr Schicksal ist die Entlarvung dieses Zynismus."
Die meisten stammen aus der Ost-Ukraine, aus Dnipro. Die Stadt wird seit Wochen fast jeden Tag von russischen Raketen getroffen. Ob sie alle in einem Bus transportiert worden seien, fragt Steinmeier. Neyman berichtet von drei Tagen im Krankenwagen allein bis zur ukrainisch-polnischen Grenze, "trotz Blaulicht". Jede der sechs kam so per Krankenwagen in Sicherheit, kam nach Polen, reiste dann weiter.
Das Gespräch dauert eine Stunde und ist eigentlich schon vorbei, da erzählt Steinmeier von sich. Auch zu seiner Familiengeschichte gehöre "Fluchterfahrung". Seine Mutter, die demnächst 93 Jahre alt werde, sei nach dem Krieg vertrieben worden und hätte neu anfangen müssen. "Uns war immer sehr präsent, was es bedeutet, Haus und Heimat zu verlieren und völlig neu wieder anzufangen."
Als der Bundespräsident seine Gesprächspartner verabschiedet, wird es herzlich. Die eine möchte ein Selfie mit ihm, eine der anderen drückt sich fast innig an seine Seite. Alle lachen miteinander. "Seien Sie sicher: Sie sind uns willkommen! Und vertrauen Sie auf unsere Hilfe!", sagt Steinmeier. Immer wieder kommt ein "Spasiba", "vielen Dank" auf Russisch.
In den vergangenen Wochen stand Steinmeier im Mittelpunkt von Kritik, weil die Ukraine ihn nicht als Besucher in Kiew empfangen wollte und ihm sein Dialog mit Russland in seiner früheren Zeit als Außenminister vorgeworfen wurde. Nun begegnet er zum wiederholten Mal evakuierten Ukrainerinnen und Ukrainern in Deutschland und reist in mittel- und osteuropäische Länder und Nachbarländer der Ukraine.
Ruhe im Verkehrslärm
Bislang kamen knapp 80 Holocaust-Überlebende aus dem vom Krieg erschütterten Land nach Deutschland. Sie wurden in Einrichtungen in elf Bundesländern aufgenommen. Das "Haus der Parität" im Osten Berlins ist noch recht neu. Die Tages- und Nachtpflegestätte "El Jana", die Teil des Hauses ist, wurde kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie fertiggestellt, deswegen wurde sie nie komplett belegt. Als Steinmeier später auf der Terrasse des Hauses zu Journalistinnen und Journalisten spricht, muss sich seine Stimme durchsetzen. Mal gegen die Geräusche der nahen oberirdisch verlaufenden U-Bahn, mal gegen das Dröhnen eines Flugzeugs - der Ort liegt in der Einflugschneise. Für die älteren Menschen, die die Fernsehbilder aus ihrer Heimat kennen und Schilderungen von Verwandten hören, ist es doch eine Oase der Ruhe.
Welches Engagement, welche Logistik hinter jeder einzelnen Flucht eines hochbetagten Überlebenden steht, verdeutlicht im anschließenden Gespräch Rüdiger Mahlo dem Bundespräsidenten. Er ist der Repräsentant der Jewish Claims Conference (JCC) in Deutschland. Seit vielen Jahren leitet die Organisation finanzielle Unterstützung an Holocaust-Überlebende in der Ukraine und anderen Ländern weiter, sie sorgt für notwendige Pflege, für medizinische Versorgung. Als die JCC-Experten bald nach Kriegsbeginn merkten, dass diese Hilfe nicht mehr möglich war, bot sie die Evakuierung an. Zunächst wollten nur 30 Prozent ihre Heimat verlassen, allmählich steige deren Zahl, sagt Mahlo. Und wer nicht nach Deutschland wolle, dem ermögliche man eine Evakuierung nach Israel oder in andere europäische Länder. Aber im Grunde kämen jeden Tag weitere Evakuierte nach Deutschland.
Viele Helfer für eine Evakuierung
Mahlo, Vertreter der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) sowie des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands und der Volkssolidarität Berlin als größtem Pflegeträger in der Hauptstadt schildern beeindruckend dem Bundespräsidenten das Engagement vieler Haupt- und Ehrenamtler für die Überlebenden und die Zusammenarbeit aller Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Für eine Evakuierung brauche es schlussendlich rund 50 Beteiligte aus 15 Organisationen, erläutert Mahlo.
Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin, preist das "hohe Gut der funktionierenden Zivilgesellschaft" in Deutschland, wenn ehrenamtliche Kräfte nachts warteten, um bei der Ankunft der betagten Gäste als Übersetzer oder Übersetzerin aus dem Ukrainischen oder Russischen zu vermitteln. Einzelne "Gerettete" seien "nur im Bademantel" angekommen. Für sie sei rasch Kleidung und Ausrüstung des täglichen Bedarfs gespendet worden.
Irgendwann kommt Laura Rose zu Wort, die Einrichtungsleiterin von "El Jana". Sie spricht zögernd, aber sie verdeutlicht, was das Engagement für die evakuierten Ukrainerinnen und Ukrainer für ihr Haus bedeute. Vier Mitarbeitende der Einrichtung sprächen Russisch. "Für sie bedeutet das jetzt Zwölf-Stunden-Dienste. Es muss immer, auch nachts und am Wochenende, jemand da sein, der Russisch spricht."
Während des Gesprächs mit Steinmeier fällt zwei, drei Mal der Satz: "Es ist nicht zu fassen, dass Russland die Ukraine überfallen hat." Und mehrere der Überlebenden verbinden den Dank für die freundliche, herzliche Aufnahme mit der Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat. "Danke für die sehr herzliche Aufnahme. Aber dennoch: Wir alle wollen so schnell wie möglich nach Hause."