Steinmeier in Sopron: "Danke, liebe Ungarn!"
20. August 2024Als Beethovens Ode an die Freude - die Europa-Hymne - ertönt, wird es ganz leise und nachdenklich auf dem Picknickplatz von Sopron.
35 Jahre nach den historischen Ereignissen vom 19. August 1989 haben sich rund 200 Menschen an der ungarisch-österreichische Grenze versammelt, um den Jahrestag des "Paneuropäischen Frühstücks" zu feiern, darunter viele Zeitzeugen von damals - und zwei Präsidenten.
"Danke, liebe Ungarn!", ruft Deutschlands Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den versammelten Menschen zu und würdigt den "Mut des ungarischen Volkes, seine Freiheitsliebe und Leidenschaft für Europa". "Wir brauchen diese Leidenschaft für Europa auch heute", sagt er.
Erster Riss in der Berliner Mauer
Was damals in Sopron geschah, habe entscheidend zum Fall des Eisernen Vorhangs beigetragen, so Steinmeier. Im August 1989 war der Transformationsprozess in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks voll im Gange: In der Sowjetunion wurden mit Perestrojka Reformen eingeleitet, in Polen gab es schon die ersten halbfreien Parlamentswahlen und auch in Ungarn stieg der Druck auf die kommunistische Regierung.
Nur die DDR-Führung wollte sich damals nicht bewegen und galt als die letzte Bastion des Kommunismus in Osteuropa. Ganz anders die ostdeutschen Bürger, die dringend nach Fluchtwegen suchten - auch über Ungarn.
Für den 19. August 1989 riefen dort die "Paneuropa-Bewegung Österreichs" und das ungarische Demokratische Forum zu einem "Paneuropäischen Picknick" in der Grenzstadt Sopron auf.
Sie wollten den Abbau der ohnehin schon löchrigen Grenzanlagen erreichen und informierten mit Flugblättern über ein Event, bei dem die Grenze symbolisch für drei Stunden geöffnet werden sollte. So erfuhren viele DDR-Urlauber in Ungarn von der Gelegenheit, in den Westen zu entkommen.
"Aus einem Picknick wurde die größte Massenflucht aus der DDR vor dem Mauerfall", sagt der Bundespräsident. Sopron sei "der erste Riss" gewesen, keine drei Monate später sei die Mauer in Berlin gefallen.
"Ich wollte kein Blutvergießen"
"Geplant war, dass nur die Offiziellen über die Grenze laufen, aber keine normalen Bürger", erzählt Árpád Bella, der damals als leitender Grenzbeamte vor Ort war und den Befehl hatte, notfalls Gewalt einzusetzen.
"Als ich sah, dass sich so viele Menschen in Bewegung setzten, hatte ich 30 Sekunden, zu überlegen und entschied, einfach nichts zu tun. Ich wollte kein Blutvergießen."
Danach drohte ihm zunächst Gefängnis. Doch als die ungarische Regierung merkte, dass das Regime in Moskau keine Konsequenzen forderte, öffnete Ungarn drei Wochen später auch offiziell die Grenzen und ließ Tausende DDR-Bürgerinnen und Bürger nach Westen ausreisen. Drei Monate später fiel die Mauer.
Unter den Picknickern in Sopron war auch das Ehepaar Sobel. "Wir haben das Richtige zur richtigen Zeit getan und sind heute stolz darauf, dass wir damals den Mut hatten", erzählen sie.
Walter und Simone Sobel sind Ungarn unendlich dankbar, sagen sie. Dass Ungarn heute in Europa für seine Alleingänge kritisiert wird, sehen sie gespalten.
"Das Weltgeschehen sei so kompliziert, dass man dazu gar nicht viel sagen möchte", so Simone Sobel. "Ich möchte Ungarn immer nur Danke sagen."
Unterschiedliche Visionen
Danke sagen - das ist auch die wichtigste Botschaft Steinmeiers bei seinem ersten Ungarn-Besuch als Bundespräsident. Dennoch klingt seine Rede, als wolle er die europäische Einheit in Ungarn entgegen dem aktuellen Trend im Land neu beschwören.
Ja, es gebe seit einiger Zeit Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Brüssel und Budapest, dennoch müsse man weiter miteinander reden - das betonen beide Präsidenten, Frank-Walter Steinmeier und Tamas Sulyok.
Dennoch zeigt Steinmeiers Besuch, wie verschieden die Visionen von Europa in beiden Ländern sind. Der Bundespräsident erinnerte an die hohe Zustimmung der Ungarn zum EU-Beitritt und daran, dass sich die meisten Ungarn mit Europa identifizieren.
Er wirbt für "Solidarität und Selbstbestimmung statt Abschottung" und appellierte an die Menschen, den Jahrestag von Sopron zum Anlass zu nehmen, "nochmal unserer gemeinsamen europäischen Bestimmung nachzuspüren".
Währenddessen betont sein ungarischer Kollege, wie wichtig für Ungarn die "nationale Identität, die Kultur, die Tradition, die Sprache und die Souveränität" seien. Was Europa verbinde, seien die christlichen Wurzeln.
Sulyok erinnerte in seiner Rede an die mehr als tausendjährige Geschichte des Christentums in seinem Land und wirbt für ein Europa, das als "freie Gemeinschaft aus unabhängigen Nationalstaaten" bestehen sollte.
Welches Europa?
Im Publikum kommt das gut an. "Wir sind auch für Europa, aber als ein souveränes Land", sagt Eszter Dunst, die sich als Zeitzeugin von damals an die Euphorie 1989 gut erinnert.
Wie sich Europa heute entwickelt, gefällt ihr nicht. Brüssel wolle alles bestimmen, wie früher Moskau, sagt die Seniorin. "Wir wollen heute selbst entscheiden, wer zu uns ins Land kommt." Ihre Freundin nickt.
Dem damaligen Grenzbeamten Bella bereiten die aktuellen Entwicklungen dagegen Sorgen, ebenso wie das zerrüttete Verhältnis zwischen dem Westen und Ungarn, das gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat.
"Die Beziehungen sind aktuell sehr schlecht", sagt er. "Man müsste viel mehr miteinander reden". Dass er heute, 35 Jahre nach dem Picknick, wieder Grenzschließungen erleben müsse, mache ihn traurig.
Starke Botschaft, schwaches Echo
So richtet auch der Bundespräsident bei der Pressekonferenz in Sopron eine klare Botschaft an die ungarische Regierung. Angesichts der neuen geopolitischen Herausforderungen müssten die Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der EU gewahrt bleiben, mahnt er.
"Mit seiner EU-Ratspräsidentschaft kommt Ungarn dabei eine wichtige Rolle zu, die Einigkeit innerhalb der EU zu stärken und bei Zukunftsthemen konstruktive und gemeinsame Lösungen voranzubringen." Deutschland wie alle anderen EU-Staaten hofften, dass "Ungarn diese Rolle annimmt und ausfüllt".
Ob und wie die Botschaft bei der Regierung Ungarns ankommt, kann man nur ahnen. Denn Ministerpräsident Viktor Orban, der das Land in seinem nationalen und europakritischen Kurs wie kein anderer prägte, blieb den Feierlichkeiten fern. Und Steinmeier fliegt auch im Anschluss nicht weiter nach Budapest, sondern zurück nach Berlin.