Späte Hilfe für Ost-Ghuta
28. Dezember 2017Hannan Al-Homsi schrie die ganze Nacht hindurch vor Schmerzen - und hielt damit auch ihren Sohn und ihre Enkelin wach. Die Familie lebt in dem belagertem Bezirk Ost-Ghuta, einer Oase am Ostrand von Damaskus. Hannan litt an Lungen- und Nierenkrebs, bekam aber keine Medikamente. Dabei war sie seit 2013 darauf angewiesen. Ihre Qualen waren erst zu Ende, als sie am 23. Dezember in den Armen ihres Sohnes starb. Sie war kaum noch in der Lage zu sprechen, murmelte ihre letzten Worte - die Schahada, eines der wichtigsten Gebete im Koran, ein Glaubensbekenntnis. "Ich fühle mich sehr privilegiert, dass Gott mich während der letzten Atemzüge meiner Mutter dabei sein ließ", sagte Al'aa Al-Homsi, der 30-jährige Sohn Hannans. "Sie klammerte sich an die Hoffnung, [Ost-Ghuta] verlassen zu können. Sie hat uns immer gesagt, dass sie zu Gott betet, um evakuiert zu werden."
Hannan Al-Homsi starb im Alter von nur 47 Jahren. Sie gehörte zu den 500 Menschen in Ost-Ghuta, die von der UN als hilfsbedürftig eingestuft wurden. Diese Zahl ist niedrig angesetzt: Die Syrisch-Amerikanische Medizinische Gesellschaft (SAMS) erklärt, dass mehr als 640 Menschen um eine Evakuierung gebeten haben. Die Liste schrumpft allmählich - aus einem makabrem Grund: Die Menschen sterben. Für einige wenige könnte es bald Hoffnung geben: Am Mittwoch teilte das Rote Kreuz mit, dass die Regierung die Evakuierung von 29 kritischen Fällen, die bis Ende Oktober als besonders dringlich eingestuft wurden, erlaubt habe. Aber nur vier der Auserwählten haben Ost-Ghuta bisher verlassen. Es ist eines der letzten Gebiete unter der Kontrolle der Rebellen. Die überwiegend islamistischen Aufständischen in der Gegend werden seit vier Jahren von Regierungstruppen belagert. Rund 400.000 Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen eingeschlossen.
Milch, die töten kann
Riwan Al-Nasser wurde kurz vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs geboren. Sie leidet an einer Bewegungsstörungen, Nierenblutungen, neurologischen Krämpfen und Lebererkrankungen. Sie ist unterernährt und kann ausschließlich über eine Sonde Nahrung zu sich nehmen. Riwans Vater Mohannad sagt, dass seine Tochter früher laufen konnte, aber dass die Belagerung sie gelähmt habe. Seit 2013 hat er keinen Facharzt für ihre Behandlung in Ost-Ghuta mehr gefunden. In der Stadt sind nur noch 107 qualifizierte Ärzte geblieben. Auch die zahlreichen Medikamente, die Riwan braucht, bekommt er nicht. Zudem verträgt sie ausschließlich ein spezielles Milchpulver. Andere Milch könnte ihren Zustand verschlechtern oder sie sogar töten. "Aber wir müssen ihr doch etwas zu essen geben", sagte Mohannad im Gespräch mit der DW. "Wir haben ihr andere Milch gegeben, damit sie nicht verhungert. Aber die verursacht Probleme im Magen und der Leber."
Im vergangenen Jahr wurde die Lage für Riwan noch schwieriger. Im April eroberten Regierungskräfte zwei Gebiete im östlichen Damaskus - Barzeh und Kaboun. Sie versiegelten unterirdische Tunnel, die unter anderem zum Schmuggel von Waffen, aber auch von anderen Gütern nach Ost-Ghuta genutzt wurden. Die Belagerung verschärfte sich im Oktober, nachdem die Regierung den Zugang zu Al-Wafideen, dem einzigen Handelsweg nach Ost-Ghuta, eingeschränkt hatte. Die Preise für Waren in der Region schnellten in die Höhe. Selbst wenn Riwans Familie ihre Spezialmilch auftreiben könnte - die Belagerung hat die Milch, die Riwan braucht, unerschwinglich gemacht. Mittlerweile, schätzt Mohannad, kostet eine Packung 25.000 syrische Pfund, das sind umgerechnet 42 Euro. Das ist zu viel für Mohannad, der darum kämpfen muss, jeden Tag auch vier andere Familienmitglieder satt zu bekommen.
Angst vor Repressalien
Am Mittwoch erfuhr Mohannad von der Hilfsorganisation "Syrisch-Arabischer Roter Halbmond", dass Riwans Name nicht auf der Evakuierungsliste steht. Aber selbst wenn sie auf der Liste stünde, würde er zögern, sagte Mohannad. Er hat Angst, verhaftet zu werden, wenn er sie nach Damaskus bringt. Für den Fall, dass sie Ost-Ghuta verlassen darf, bat er darum, sie nach Jordanien bringen zu dürfen. Dort habe er einen Sponsor, der ihm die Einreise in das Land ermögliche.
Die Evakuierung in die Türkei wäre eine weitere Option. Anfang der Woche erklärte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, dass er mit Russland verhandele, um Zivilisten aus Ost-Ghuta zur medizinischen Versorgung auszufliegen. Doch die Lage ist schwierig: Mohammad Katoub von der Syrisch-Amerikanischen Medizinischen Gesellschaft sagte der DW, dass einige Eltern, die ihre Kinder bereits für eine Evakuierung angemeldet hatten, ihre Meinung geändert hätten. Sie hätten Angst vor Repressalien - ähnlich wie Mohannad. Andere Eltern hätten für mehrere erkrankte Kinder die Evakuierung beantragt, aber nur eines wurde ausgewählt. Diese Familien sind nun gezwungen, sich zu entscheiden, ob sie im belagerten Ost-Ghuta zusammenbleiben oder sich trennen.
Keine Vorräte mehr
"Tatsächlich könnten viele Menschen in Ost-Ghuta behandelt werden, wenn die Belagerung aufgehoben würde", sagt Katoub. Doch die Zeit drängt: Am Mittwoch entdeckte ein lokales medizinisches Team, dass ein sechs Monate altes Mädchen, das auf der Evakuierungsliste stand, gestorben war. Auch andere werden sterben, warnt Katoub, es sei denn, die Belagerung werde aufgehoben und die Evakuierung beschleunigt. "Die Vorräte gehen zur Neige", sagte er. Ärzte können die Menschen nicht mehr behandeln. "Der Umfang ihrer medizinischen Leistungen schrumpft von Tag zu Tag."