1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Lückenkemper: Grenzerfahrungen in Florida

Heiko Oldörp
14. Mai 2021

Sie ist Deutschlands aktuell schnellste Frau. Doch Sprinterin Gina Lückenkemper will mehr. Die Olympischen Spiele in Tokio stehen schließlich vor der Tür.

https://p.dw.com/p/3tNOk
Katar Leichtathletik-WM 2019 | Gina Lueckenkemper
Bild: picture-alliance/ATP/K. Matsuo

Heute ist es wieder soweit. Freitag. Für Gina Lückenkemper heißt das Schmerzen, Qualen und wohl auch wieder ein paar Tränen auf der Tartanbahn des National Training Center in Clermont. Denn Freitag, das ist im Trainingscamp von Starcoach Lance Brauman in Florida schlichtweg der "knockout day" - oder, wie Lückenkemper es im Gespräch mit der DW nennt, "der Tag, an dem wir in der Gruppe sterben werden". 

Denn freitags gibt es die "300-Meter-Splits”. Die Läufe sind eine Spezialität Braumans. Erst 200 Meter in weniger als 24 Sekunden. Eine Minute Pause, gefolgt von 100 Metern um die zwölf Sekunden. Nach sechsminütigem Durchschnaufen gibt es zwei 150-Meter-Läufe mit 60 Sekunden Pause zwischendurch. Lückenkemper weiß schon jetzt, dass sie "während der Einheit und am Ende vor Schmerzen weinend am Boden liegen" wird.

"Volle Kanne in den Gegenwind"

Kürzlich musste Deutschlands schnellste Frau den ersten 150-Meter-Sprint "volle Kanne in den Gegenwind” rennen. Sie habe sich fast übergeben müssen, aber keine Zeit dazu gehabt, da nach einer Minute Pause bereits der nächste 150-Meter-Lauf zu absolvieren war. Lückenkemper spricht von "Grenzerfahrungen" - und davon, dass sie in dieser Trainingsgruppe gelernt habe, "an diese Grenzen zu gehen und vor allem, ins Laktat reinzurennen". All das habe sie sich "früher so in dem Maße und in dem Umfang gar nicht getraut", sagt die 24-Jährige.

Im Herbst 2019 hatte sie sich entschieden, in Vorbereitung auf die Olympischen Sommerspiele in Tokio in die Trainingsgruppe von Lance Brauman zu wechseln. Der Zeitpunkt habe gepasst, sagt Lückenkemper, da ihr Vereinstrainer, Uli Kunst, ohnehin Ende 2020 aufhören wollte. Mit Kunst hatte sie seit 2015 zusammengearbeitet. Ihm habe sie ihre persönliche Bestzeit von 10,95 Sekunden im Vorlauf der Weltmeisterschaften 2017 sowie die 10,98 Sekunden bei der Europameisterschaft 2018 zu verdanken, sagt Lückenkemper. Und durch diese Zeiten habe Kunst es ihr ermöglicht, sich der Brauman-Trainingsgruppe anzuschließen und "den nächsten Karriere-Schritt” zu gehen.

Erste Deutsche bei Star-Trainer Brauman

Der US-Amerikaner Brauman gilt als einer der besten Sprint-Coaches der Welt. Seine ersten bekanntesten Athleten waren der frühere 100- und 200-Meter-Weltmeister Tyson Gay (USA) und die zweimalige 200-Meter-Olympiasiegerin Veronica Campbell-Brown (Jamaika). Braumans aktuelle Stars sind 200-Meter-Weltmeister Noah Lyles (USA) und 400-Meter-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo (Bahamas). Vor wenigen Wochen kam Wayde van Niekerk hinzu. Der Südafrikaner ist Olympiasieger und Weltrekordhalter über 400 Meter. 

Lückenkemper ist die erste Deutsche in dieser internationalen Trainingsgruppe. Ihr größter Erfolg war bisher EM-Silber 2018 in Berlin. Im Vergleich zum Edelmetall der anderen mag das etwas bescheiden anmuten, doch Trainer Brauman freut sich, die Studentin der Wirtschafts-Psychologie bei sich zu haben. "Sie hat bewiesen, dass sie eine Weltklasse-Athletin ist, war EM-Zweite, hat einige Male die elf Sekunden unterboten. Sie ist mehr als qualifiziert, um in dieser Gruppe dabei zu sein”, sagt Brauman gegenüber der DW.

Nicht nur mitlaufen, sondern auch mithalten

Die großen Namen mit ihren Medaillen und Meriten sind Motivation und Ansporn für Lückenkemper. Sie will nicht nur mitlaufen, sondern auch mithalten. In jeder Trainingseinheit stehen Stars links oder rechts neben ihr auf der Bahn. "Dadurch kommt man viel besser an seine Grenzen heran, kann sich pushen, auch wenn es vielleicht mal an einem Tag nicht ganz so einfach fällt", sagt Lückenkemper.

US-Sprinttrainer Lance Brauman
Lance Brauman (hier 2010 in Brüssel) gehört seit Jahren zu den erfolgreichsten Sprinttrainern der WeltBild: JORGE DIRKX/Belga/imago images

Seit Februar ist sie in der Kleinstadt Clermont, knapp 40 Kilometer westlich von Orlando. Lückenkemper kennt sich bereits aus, war in den vergangenen Jahren schon öfter dort. Ihre tägliche Routine beginnt mit dem Auftragen der Sonnencreme, Schutzfaktor 50. Dies sei ebenso wichtig wie die Wasserflasche beim Training, sagt sie. Dennoch sind ihr die drei Monate im "Sunshine State" anzusehen, ihre Haut ist stark gebräunt.

Intelligente Trainingsstrukturierung

Lückenkemper beschreibt Braumans Einheiten als "unfassbar intelligent von der Trainingsstrukturierung her". Der Coach erkundigt sich bei jedem vor den Einheiten, wie sie oder er sich fühle - und dementsprechend wird dann das Training angepasst. Lückenkemper hebt hervor, dass zwar "nur viermal die Woche hart” trainiert werde, doch das gebe eben allen die Zeit und Möglichkeit, viele Erholungsphasen einzubauen. Brauman weist immer wieder darauf hin, wie wichtig die Regeneration sei: "Was macht jemand, der krank ist, um sich zu erholen? Er schläft. Weil Schlaf einfach die beste Regenerations-Möglichkeit für den Körper ist.” Und was Braumans Schützlinge ihren Körpern im Training zumuten, sei extrem, sagt Lückenkemper.

Katar | Leichtathletik Weltmeisterschaften in Doha 2019
In den Startblöcken: Gina Lückenkemper freut sich auf die Olympischen Spiele in TokioBild: picture-alliance/L. Perenyi

Die Sommerspiele in Tokio sind natürlich ein großes Thema, aber momentan liegt der Fokus im Brauman-Camp noch auf den jeweiligen nationalen Titelkämpfen. Für Lückenkemper finden die am 5. und 6. Juni in Braunschweig statt. Bei den Deutschen Meisterschaften würde sie gerne nochmal die 11,14 Sekunden laufen, mit denen sie sich 2019 das Olympia-Ticket gesichert hatte. Wenn sie noch schneller wäre, umso besser. Die Zeiten würden schon kommen, sagt Ihr Trainer Brauman: "Gina trainiert jeden Tag mit und gegen die Besten der Welt - solche Umstände führen zu guten Zeiten."

Wechsel "jetzt schon ein Erfolg"

Außenstehende mögen Lückenkempers Wechsel zu Brauman an ihrem Abschneiden in Tokio messen. Daran, ob sie es als erste Deutsche seit Heike Drechsler 1988 in ein olympisches 100-Meter-Finale schafft - oder eben nicht. Doch für sie persönlich sei das Engagement "jetzt schon ein Erfolg", sagt Lückenkemper. Im Winter hatte sie noch Schienbein-Probleme. Doch seitdem sie wieder in Florida trainiert, habe sie "nicht einen Tag Schmerzen gehabt”, so die Sprinterin. 

Deshalb wird sie bei den 300-Meter-Splits auch wieder alles geben - trotz der Qualen und der Gewissheit, dass es "richtig gemein wird". Obwohl Gina Lückenkemper nun schon mehrere Male in Clermont trainiert hat, spricht sie immer noch voller Begeisterung von den Gegebenheiten und dem Team. "So eine Möglichkeit bekommt man nicht alle Tage, sich solch einer elitären Gruppe anzuschließen. Das ist schon was Einmaliges hier. Ich bin unfassbar dankbar, dass ich diese Möglichkeit überhaupt habe."