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Lebendiges Jiddisch

Robert B. Fishman (EURANET)7. Januar 2009

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln oder aus akademischem Interesse lernen Menschen aus aller Welt in Litauen Jiddisch. In Vilnius wird für sie eine Sprache lebendig, von der einige glauben, sie sterbe aus.

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Ein Jude betet in einer Synagoge; links von ihm steht eine Schrifttafel mit hebräischen Buchstaben (26.09.2006/dpa)
Jiddisch lernen - das ist nicht nur das Verstehen der SpracheBild: picture-alliance/dpa

In rabbinischem Singsang rezitiert Dov-Ber Kerler Geschichten aus einer untergegangenen Welt auf Jiddisch. 14 Schüler aus sechs Ländern saugen jedes seiner Worte auf, als seien sie ihnen heilig. Viele schreiben mit, die meisten in hebräischen Buchstaben. Denn hier sitzen die Fortgeschrittenen der „Yiddish School“ an der Universität von Vilnius.

Eine Kursteilnehmerin, die nach sieben Jahren in Israel nun wieder in ihrer Heimatstadt Vilnius lebt, dachte, sie könne Jiddisch sprechen. Nun wisse sie aber, dass sie nichts wisse, sagt sie. Am „Yiddish Institute“ lernt die alte Dame ihre Mameloschn, ihre Muttersprache. Als Kind habe sie nur jiddisch gesprochen, sagt sie. Die damalige Amtssprache Russisch lernte sie erst in der Schule. „Wenn die Eltern hobn gestorbn, hob ich aufgehert zi rejdn jiddisch.“

Auf der Suche nach den Wurzeln

Ein Schriftstück mit hebräischen Buchstaben (04.02.2002/AP)
Jüdisch lernen bringt u.a. die Auseinandersetzung mit hebräischer Schrift mit sichBild: AP

„Viele Überlebende des Holocaust haben versucht, ihre Herkunft zu verdrängen“, sagt die stellvertretende Direktorin des Instituts, Ruta Puisyte. Sie wollten sich möglichst schnell ihrer neuen Umgebung anpassen. Jetzt seien es ihre Kinder und Enkel, die mehr über die Geschichte ihrer Familien erfahren möchten, Fragen stellen und die Sprache ihrer Vorfahren lernen.

Annika Hillmann ist mit 25 Jahren die Jüngste im Kurs. Ihr Interesse an der jiddischen Sprache ist nicht persönlicher, sondern literaturwissenschaftlicher Art. „Es ist sehr interessant für mich, dass sich nicht nur ein ganzer Schatz von Literatur für mich erschlossen hat durch das Jiddisch-Studium, sondern auch ein Bewusstsein für die Geschichte der osteuropäischen Juden“, erklärt die Germanistikstudentin aus Hamburg.

Das einstige „Jerusalem des Nordens“

Die Universität von Vilnius
An der Universität Vilnius kann jiddisch erlernt werdenBild: DW/ Vitureau

Der Ort für den Sprachkurs ist gut gewählt: Die vor fast 500 Jahren erbaute Hochschule in Vilnius grenzt an das einstige jüdische Ghetto. Tausende von Menschen haben die Nazis hier zusammengepfercht.

Nach dem deutschen Einmarsch 1941 zog sich der Ring der Vernichtung immer enger um das einst blühende jüdische Viertel der Stadt, die vor dem Zweiten Weltkrieg als „Jerusalem des Nordens“ galt. Am 23. September 1943 wurde das Ghetto schließlich „liquidiert“: Wer bis dahin nicht geflohen war, wurde von SS-Männern und ihren litauischen Helfern aus der Stadt getrieben, erschossen oder in den Vernichtungslagern vergast.

Die 86-jährige Fania Brancovskaja konnte damals in letzter Minute flüchten. Sie schloss sich den Partisanen an, die gegen den braunen Terror kämpften – und kehrte später in ihr Heimatland zurück. In fließendem Jiddisch erzählt die Bibliothekarin des Jiddisch-Instituts ihre Geschichte: Sie führt die Kursteilnehmer durch die Stadt und ihre Umgebung - auf den Spuren des einst blühenden jüdischen Lebens.

Vier Wochen lang Jiddisch

Ein Jude sitzt in der Synagoge (10.05.2004/dpa)
Viele Kursteilnehmer haben einen persönlichen Bezug zur jüdischen TraditionBild: dpa Zentralbild

An der „Yiddish School“ wird vor allem vormittags unterrichtet. Nachmittags entdecken die Kursteilnehmer auf Exkursionen die jüdische Geschichte der Stadt. Mit Gesangs-, Musik-, Tanz- oder Literaturkurse wird ihnen die jüdische Kultur nahe gebracht.

„Man bekommt eine ganze andere Vorstellung davon, was Jiddisch einmal gewesen ist und hoffentlich auch – vielleicht ein bisschen – wieder werden kann“, erklärt Annika. Wenn man vier Wochen lang jeden Tag Jiddisch spreche und in einer Umgebung sei, in der Jiddisch einmal sehr lebendig gewesen sei, sei das ein sehr intensives Erlebnis.