Spirale der Gewalt
6. Februar 2004Der Krieg in Tschetschenien sei vorbei. Jetzt gehe es um den Wiederaufbau des Landes, um die Rückführung der Flüchtlinge, die im benachbarten Inguschetien ein trauriges Dasein fristen. So tönten noch vor wenigen Tagen Vertreter der russischen Regierung. Nichts von alledem ist wahr. Offenbar ein tschetschenischer Selbstmordattentäter - oder eine Attentäterin - hat sich am Freitagmorgen (6.2.) in der Moskauer U-Bahn in die Luft gesprengt und Dutzende von Menschen mit in den Tod gerissen. Zahlreiche Verletzte sind zu beklagen.
Nach dem verbrecherischen Anschlag macht sich in der russischen Hauptstadt ein Gefühl der Unsicherheit, ja Angst breit. Schließlich sind sie auf die Metro angewiesen. Millionen Menschen kommen so allmorgendlich zur Arbeit. Eine Alternative haben sie nicht. Die Straßen sind hoffnungslos verstopft, auch wenn sie zum Teil über fünf oder gar sechs Spuren führen. Sicherheitskontrollen gibt es in der russischen U-Bahn nicht. Höchstens ein paar Milizionäre patroullieren entlang der Stationen. Viel ausrichten können sie nicht gegen Terroristen.
Das gilt übrigens auch für die Mächtigen im Kreml. Das Übel der immer weiter ausufernden Gewalt müssen sie an der Wurzel packen: In Tschetschenien selbst. Solange dort eine marodierende russische Soldateska Frauen vergewaltigt, plündernd in Dörfer einfällt, tschetschenische Kämpfer - oder solche, die sie dafür hält - foltert, wird es keinen Frieden geben: nicht in Tschetschenien und nicht in den anderen Teilen Russlands. Sogenannte "schwarze Witwen" - also tschetschenische Frauen, die ihre Männer verloren haben - werden versuchen sich zu rächen, werden ihrerseits unschuldige Russen in den Tod reißen. Eine Spirale der Gewalt ist entstanden. Mit martialischen Sprüchen, wie sie der russische Präsident gerne im Munde führt, löst er dieses Problem nicht.
In wenigen Wochen wird sich der Kremlchef in seinem Amt bestätigen lassen. Von einer echten Wahl kann aus vielen Gründen keine Rede sein: Potentielle Herausforderer wurden eingeschüchtert, sogar ins Gefängnis geworfen. In Russland herrscht keine Pressefreiheit. Die elektronischen Medien sind fast schon wie zu sowjetischen Zeiten der verlängerte Arm der Partei der Macht. Der schreckliche, verabscheuungswürdige Anschlag in der Moskauer U-Bahn sollte womöglich dem Kremlchef vor Augen führen, dass er keineswegs die Lage im Land kontrollieren und für Ruhe und Sicherheit sorgen kann. Anschläge wie die vom Freitagmorgen sind jederzeit wieder möglich.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die russische Regierung alleine nicht in der Lage ist, Tschetschenien zu befrieden. Ihre Methode mit noch größerer Gewalt auf die Terroranschläge der tschetschenischer Separatsten zu reagieren, funktioniert nicht. Nur aus diesem Grund haben westliche Staaten ihre Hilfe angeboten, wollen zwischen den Kontrahenten vermitteln. Moskau lehnt das als fremde Einmischung in die inneren Angelegenheiten ab. Der Kreml tut alles, damit Vertreter der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) oder des Europarates gar nicht erst in den Kaukasus fahren. So ist der Westen dazu verdammt, das traurige Geschehen in Tschetschenien als Beobachter zu verfolgen. Man braucht über keinerlei prophetische Gaben zu verfügen, um bereits heute vorauszusagen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der nächste Anschlag unschuldige Zivilisten in den Tod reißt. Eine Lösung des Konfliktes zeichnet sich nicht ab.