Spaniens aussterbende Dörfer
15. April 2022Conrado Giménez war ein erfolgreicher Banker, bevor er seine "Erleuchtung" hatte, wie er es nennt. Der heute 60-Jährige kam aus einer Sitzung des Verwaltungsrats der Banco Santander, als er mit seinem Auto einen schweren Unfall erlitt: "Vorher habe ich weder an Gott geglaubt, noch war ich ein guter Mensch. Als ich wieder bei Bewusstsein war, schwor ich mir, mein Leben zu verändern."
Das war vor 20 Jahren. Damals gründete er dann "Fundación Madrina", übersetzt "Stiftung Patentante" und setzt sich seitdem für alleinstehende Mütter, aber vor allem für die Wiederbelebung der Dörfer ein. Von denen stehen nach offiziellen Angaben 840 kurz davor, von der Landkarte zu verschwinden.
Grassierende Landflucht
Keine Gesellschaft in Europa altert so schnell wie die spanische: Die Geburtenrate ist eine der niedrigsten der Welt und gleichzeitig leben die Menschen länger als in vielen anderen Ländern. Die spanische Bevölkerung ist zwar von 1975 bis heute nach Angaben des Statistikamts INE von 34 auf 47 Millionen Menschen gestiegen, aber nur dank der Zuwanderung aus Lateinamerika, Osteuropa und Nordafrika.
Eine Studie der spanischen Bank La Caixa zeigt, dass bereits rund zehn Prozent der Bevölkerung von Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern in Spanien ausländischer Herkunft ist. Die Migranten aus Mali, Marokko oder dem Senegal arbeiten dort vor allem in der Landwirtschaft. Die anderen Dörfer vereinsamen förmlich: So hat beispielsweise die Provinz Zamora mit ihren kleinen idyllischen Dörfern in den vergangenen Jahrzehnten 31 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Die großen Städte Barcelona und Madrid hingegen sind enorm gewachsen und die Mieten dort unerschwinglich geworden.
Zwei Fliegen mit einer Klappe
"Es macht keinen Sinn, wie wir in Spanien leben", sagt der ehemaligen Banker Giménez. Die Bevölkerungsdichte liege bei weniger als 100 Menschen pro Quadratkilometer. Im Vergleich: In Deutschland sind es 230. In den besonders leeren Landesteilen, die Experten "la España vaciada" nennen, übersetzt das "entleerte Spanien", kommen gerade einmal 14 Einwohner auf einen Quadratkilometer.
Doch Spanien ist derzeit zu hoch verschuldet, um die kleinen Dörfer mit entfernten Städten per Zug zu verbinden und die öffentlichen Schulen dort weiter zu finanzieren. In den Städten wiederum gibt es gerade für junge Frauen mit Kindern wenig Hilfen und auch kein so weitgefächertes Angebot an Frauenhäuser wie in Deutschland. Für junge alleinstehende Mütter stellt das Leben auf dem Dorf eine echte Alternative da.
Mit seinem Projekt "Patentante" bietet Giménez da einen Lösungsansatz. "Wir bringen mit unserer Initiative zumindest wieder junge Menschen aufs Land und schlagen dabei zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Mütter können mit ihren Kindern in einer sicheren Umgebung leben und viele Dörfer haben so wieder eine Zukunft", sagt Giménez, der bereits mehr als 300 Familien auf diese Weise "verpflanzt" hat. Die meisten davon sind ausländischer Herkunft und kommen aus extremen Gewaltsituationen.
Spanien altert und wird immer ungleicher
Dennoch ist Giménez Initiative nur ein Tropfen auf den heiβen Stein. Es wird wohl Jahrzehnte dauern, das "entleerte Spanien" wieder zu besiedeln. Derzeit vereinen 1500 Gemeinden 90 Prozent der spanischen Bevölkerung und nehmen 30 Prozent des spanischen Territoriums ein. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass zehn Prozent der Spanier die restlichen 70 Prozent der Landesfläche wirtschaftlich erhalten müssen.
Neue lokal orientierte politische Parteien wie "Teruel existe (Teruel existiert)", "Soria Ya" (Soria jetzt) oder "Jaén merece más" (Jaén verdient mehr) versuchen das Problem im National-Parlament immer wieder auf die Agenda zu bringen. Da die Regierung nur eine knappe Mehrheit hat, werden sie immer wichtiger und einflussreicher. Gerade hat das Energieunternehmen Iberdrola bekannt gegeben, dass es mit Hilfe der europäischen Investitionsbank EIB die erste Fabrik für grünen Wasserstoff in Puertollano bauen wird. Der Ort liegt in der besonders von dem Exodus gebeutelten autonomen Region Castilla La Mancha. 300 neue Stellen sollen dort entstehen.
Geflüchtete als eine Lösung
Im spanischen Fernsehen hat das Thema der "Entleerung Spaniens" inzwischen ebenfalls einen festen Platz. Verschiedene Sendungen reisen von Dorf zu Dorf und zeigen neue wirtschaftliche und soziale Initiativen, die das Aussterben aufhalten sollen. Besonders medienwirksam war das Projekt in Pescueza bei Cáceres im Süden Spaniens. Hier leben nur noch 136 Menschen, die meisten sind sehr alt. Der Interessenverein "Asociación Amigos de Pescueza" hat deswegen eine Infrastruktur von Hilfskräften und Ärzten organisiert, damit die alten Menschen dort wohnen bleiben können und nicht in die Stadt in eine teure Residenz gehen müssen. Das ganze Dorf wurde altenfreundlich umgestaltet mit speziellen Wegen für Menschen mit Gehhilfen und elektrischen Transporthilfen. Seit 17 Jahren wurde hier kein Mensch mehr geboren. Das wollen Beratungsstellen und Kulturvermittler wie "El hueco·" (die Lücke") oder "Hola Pueblo" (Hallo Dorf) verändern. Zum Beispiel gibt es seit Kurzen die Messe "Presura". Hier kommen Vertreter von Dörfern und von wirtschaftlichen Projekte zusammen.
Auch die spanische Regierung hat die Notwendigkeit erkannt, die "Lücken" im Land zu schließen, um nicht noch mehr Wähler zu verlieren und Spanien wirtschaftlich nachhaltiger zu gestalten. Der spanische Premier Pedro Sánchez hat jüngst angekündigt, dass auch öffentliche Institutionen immer mehr über das ganze Land verstreut werden sollen und sich nicht alles in der Hauptstadt konzentrieren dürfe. Die gebeutelte Provinz Teruel soll deswegen Sitz der geplanten spanischen Weltraumagentur AEE werden.
Derweil hat der ehemalige Banker Giménez mit einem spanischen Unternehmer Hunderte von Waisenkindern aus der Ukraine abgeholt und in Institutionen und Familien in spanischen Dörfern untergebracht: "Wir können uns in der aktuellen Situation nicht leisten, unsere ungenutzte vorhandene Infrastruktur nicht zu nutzen", sagt Giménez. Alle sollten sich deshalb dafür einsetzen, "dass das Dorf der Eltern auch die nächsten Generationen überlebt." Für Giménez ist klar: Die Dörfer müssen gerettet werden. Auch wenn das bedeutet, dass vielleicht nur noch die wenigstens Einwohner wirklich von dort stammen.