Spanien weist Flüchtlinge aus, erneut Tote an der Grenze
6. Oktober 2005Ana Jimenez von "Melilla nimmt auf" (Melilla acoge) findet derzeit kaum Ruhe. Jeden Tag kommen Afrikaner in das Büro der Organisation in der spanischen Exklave und lassen sich beraten. Meist sind es junge Männer aus Mali, Kamerun oder anderen Ländern jenseits der Sahara. Viele tragen Verbände an Händen und Füßen. Sie verdecken die klaffenden Wunden, die sie sich zugezogen haben, als sie den mit Stacheldraht gesicherten Grenzzaun überklettert haben. "Sie sind oft ausgemergelt und doch lächeln sie", sagt Ana. Viele seien bis zu zwei Jahre unterwegs gewesen. Für sie ist es ein Erfolg, in Europa angekommen zu sein - Die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, die einst als militärische Vorposten genutzt wurden, um die Straße von Gibraltar zu schützen, sind für die Einwanderer heute das Tor zu Europa.
Doch die Freude ist nicht von langer Dauer. Ana muss ihren Besuchern klarmachen, dass sie kaum Perspektiven haben, in Spanien an eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis zu kommen. Das nach wie vor restriktive Ausländergesetz verhindert dies. 1300 Afrikaner harren derzeit nach Angaben der Organisation in Melilla aus. Das dortige Auffangzentrum ist jedoch nur für 400 Menschen eingerichtet. Trotz der angespannten Situation zeigt die Bevölkerung in der spanischen Exklave Verständnis. "Die Leute wissen, wie viel die Einwanderer gelitten haben. Rassismus ist hier keineswegs verbreitet", sagt Ana. Stattdessen sei die Hilfsbereitschaft der rund 70.000 spanischen Einwohner der Stadt groß.
Umstrittene Maßnahme
Dennoch steht die spanische Regierung unter enormem Handlungsdruck. Seit der Nacht zum Freitag (7.10.2005) werden Einwanderer nach Marokko abgeschoben. Grundlage dafür ist ein 1992 mit Marokko geschlossenes Abkommen, das bislang nicht angewendet wurde. Eine erste Gruppe von 70 illegalen Einwanderern wurde von Melilla per Flugzeug nach Málaga in Südspanien und von dort über den Hafen Algeciras mit einem Schiff in die marokkanische Hafenstadt Tanger gebracht. Für Ana ist das eine fatale Entscheidung: "Viele Einwanderer haben mir gesagt, dass sie lieber sterben, als nach Marokko zurückzukehren."
José Miguel Morales, Vorsitzender der Organisation "Andalucia acoge" (Andalusien nimmt auf) zu der "Melilla nimmt auf" gehört, übt scharfe Kritik an den Abschiebungen nach Marokko: "Wir haben Berichte von unseren Partnerorganisationen in Marokko sowie von den Einwanderern selbst über schwere Misshandlungen durch die marokkanische Polizei". Mehrere Frauen hätten berichtet, sie seien vergewaltigt worden. Diese Berichte habe man an die spanische Regierung weitergeleitet. "Wir haben jedoch nicht das Gefühl, dass sie unsere Vorwürfe ernst nehmen". Marokkanische Soldaten haben am Donnerstag mindestens sechs Afrikaner erschossen, als wieder hunderte Flüchtlinge die Grenze stürmen wollten. Die Besatzung eines Beobachtungspostens habe sich gegen rund 400 Angreifer verteidigt, zitierte die Nachrichtenagentur MAP den Gouverneur der Provinz Nador, Abdellah Bendhiba.
Für Morales sind die menschenunwürdigen Zustände, in denen die Einwanderer in Marokko leben, auch einer der Gründe, weshalb es zu den Massenanstürmen gekommen ist. Diese Ansicht teilt auch Mustafa al Mrabet, Vorsitzender der Vereinigung marokkanischer Arbeiter in Spanien (Atime). "Die Menschen werden doch wie Ratten behandelt". Das Verhalten von Marokko sei beschämend. Al Mrabet ist aber auch empört über die Misshandlung eines Einwanderers durch einen spanischen Polizisten am Grenzzaun in Melilla. Der spanischer Sender Telecinco hatte am Dienstag gezeigt, wie der Beamte auf einen am Boden liegenden Einwanderer eintritt. Sicher kein Einzelfall, glaubt al Mrabet.
Nach seiner Ansicht ist die Eskalation der Situation vor den Toren Europas keine Überraschung. "So ein Ansturm war doch schon seit Jahren abzusehen". Europa sei für das Phänomen der illegalen Einwanderung mit verantwortlich. Man habe es versäumt, die Wurzel des Problems anzugehen, nämlich das Elend in Afrika zu bekämpfen.
Nicht dramatisieren
Organisationen wie Atime oder "Andalusien nimmt auf" fordern, den Einwanderern Möglichkeiten zu bieten, auf legale Weise nach Spanien einzureisen. Zwar bescheinigt Morales der sozialistischen Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero Fortschritte in der Einwanderungspolitik. So hatte Spanien im Frühjahr rund 700.000 illegalen Einwanderern die Staatsbürgerschaft zuerkannt. "Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass das von der konservativen Vorgängerregierung verabschiedete strenge Ausländergesetz weiter in Kraft ist", sagt der Vorsitzende der Organisation "Andalusien nimmt auf".
Morales räumt ein, dass freilich niemand ein Patentrezept zur Lösung der Situation bereit hält. Er warnt jedoch die spanische Regierung und die EU davor, in blinden Aktionismus zu verfallen und appelliert an die Medien, die Situation nicht zusätzlich anzuheizen. "Trotz der Dramatik der Bilder: Wir sprechen derzeit von etwa 1300 Personen in Ceuta und Melilla, die versuchen nach Europa zu kommen. Das ist doch im Vergleich zu einer Gesamtzahl von zwei Millionen Ausländern in Spanien ein Witz." Dennoch erweckten, vor allem konservative Medien den Eindruck, es stünde eine "Invasion" bevor. Hier würden die Bilder instrumentalisiert, um Stimmung gegen die Einwanderung zu machen, mahnt Morales.