Soziale Kälte nimmt zu
21. März 2018Fast überall in Europas Städten sieht man sie: Obdachlose, die notdürftig in verdreckte Decken oder einen Schlafsack gehüllt auf der Straße übernachten. Eine Isomatte auf dem kalten Asphaltboden ist oft ihr einziger Schutz. Viele müssen auf Zeitungspapier liegen. Schnee, Regen, Minustemperaturen - die derzeit anhaltend winterlichen Temperaturen in weiten Teilen Europas sind für sie lebensgefährlich. Dabei scheint die Zahl der Obdach- oder Wohnungslosen, also derjenigen, die sich ständig eine neue Bleibe suchen müssen, in den letzten Jahren gewachsen zu sein.
Diese Entwicklung, die man als Passant auf Europas Straßen seit einiger Zeit subjektiv zu beobachten meint, wird nun von harten Fakten bestätigt. Die Europäische Dachorganisation für Wohn- und Obdachlosigkeit FEANTSA belegt dies in ihrem 3. Überblicksbericht zur Wohnexklusion in Europa. Erschreckender Grundtenor der Studie, den die FEANTSA gemeinsam mit der Stiftung Abbé Pierre, einer französischen Organisation, die sich um Obdachlose kümmert, herausgebracht hat: Die soziale Kälte hat zugenommen, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander.
Der frühe Tod auf der Straße
Denn in allen europäischen Ländern bis auf Finnland sind sowohl die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen als auch die Kosten für Wohnungen drastisch gestiegen. Die Datengrundlagen der einzelnen Staaten basieren auf unterschiedlichen Berechnungen und sind insofern schwer vergleichbar, dokumentieren aber einen traurigen Trend. Zu den Staaten mit den meisten Obdachlosen gehören England mit einem Plus von 169 Prozent (von 2010 bis 2016), Irland mit einem Plus von 145 Prozent (von 2014 bis 2017) und Belgien mit 96 Prozent Zuwachs (von 2008 bis 2016).
Zu den Ländern, in denen die Wohnkosten am meisten gestiegen sind, gehören Bulgarien, England, Portugal, Tschechien und Polen (siehe Grafik). Europaweit sterben Obdach- oder Wohnungslose 30 Jahre früher als der Rest der Bevölkerung. Im Durchschnitt leben sie 10,3 Jahre ohne festen Wohnsitz.
Die Lage hat sich aber auch in einem Land verschlechtert, das für sein eigentlich gut funktionierendes Sozialsystem bekannt ist: Deutschland. Nach der Studie der Europäischen Dachorganisation für Wohn- und Obdachlosigkeit waren demnach im Jahr 2016 geschätzt 860.000 Menschen obdach- oder wohnungslos. Dies entspricht einem Anstieg von 150 Prozent zwischen 2014 und 2016.
Ein trauriger Spitzenplatz für Deutschland
Rund die Hälfte der armen Haushalte in Deutschland wenden mehr als 40 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen auf. Es gibt nur zwei Länder, in denen arme Haushalte noch stärker durch Wohnkosten belastet sind, nämlich in Bulgarien und Griechenland (siehe Grafik). Der EU-Durchschnitt liegt bei 42,1 Prozent. Als "arm" definiert die Studie ein durchschnittliches Einkommen von weniger als 60 Prozent des nationalen mittleren Einkommens, des sogenannten Medianeinkommens.
Deutschland liegt unter den Ländern, in denen die größten Ungleichheiten beim Zugang zu Wohnraum bestehen. "Die Tatsache, dass sich ein reiches Land wie Deutschland unter jenen europäischen Ländern mit der größten Wohnexklusion befindet, ist besonders schockierend", kritisiert FEANTSA-Direktor Freek Spinnewijn in einer Presseerklärung.
Finnland als Beispiel für Europa
"In Deutschland haben wir seit Jahren einen rückläufigen sozialen Wohnungsbau und das hat das preisgünstige Segment schmelzen lassen", sagt der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Thomas Specht, der Deutschen Welle zur Erklärung. Sein Institut hat dem Bericht zur Wohnexklusion in Europa Zahlen und Daten zugeliefert. Insgesamt sei der Bedarf an Wohnungen durch "Zuzug oder Umstrukturierung besonders in den Metropolen gestiegen", erläutert Specht. Und das lässt die Kosten explodieren.
Außerdem sei in den "letzten Jahren wenig für die Rahmenbedingungen des Wohnungsbaus getan worden." Vor allem junge Menschen mit geringem Einkommen sind davon betroffen. Specht fordert soziale Wohnungsbauprogramme und verweist auf Finnland als positives Beispiel. Dort habe es ein spezielles Programm gegeben, "das aus verschiedenen Quellen finanziert worden ist." Dazu gehörten Spenden und Fördermittel unter anderem aus der Automaten- und Glücksspielindustrie.
Erstmals Flüchtlinge in der Statistik
Allerdings seien in dem kleinen Land bisher nur "acht- bis zehntausend Wohnungen gebaut worden." Das Modell sei schwierig auf größere Länder wie Deutschland zu übertragen, wo der Bedarf nicht einfach aus Sonderprogrammen finanziert werden könne, "sondern man sehr umfangreiche marktsteuerende Maßnahmen braucht. Aber vom Grundansatz her, dass alle Menschen mit Wohnungen versorgt werden sollen, "ist Finnland vorangegangen".
Dass die deutschen Zahlen derart nach oben geschnellt sind, begründen die Forscher auch mit der erstmaligen Einbeziehung von Flüchtlingen in die Erhebung. Thomas Specht von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht davon aus, dass rund 440.000 Flüchtlinge in die Statistik eingeflossen sind. Denn die meisten Flüchtlinge haben keinen Mietvertrag und leben vorübergehend in Heimen oder Sammelunterkünften.
Kanzlerin Merkel in der Pflicht
Es sei klar gewesen, "dass die Flüchtlingsproblematik auch Folgeprobleme am Wohnungsmarkt auslösen würde", sagt Specht. Ohne Einbeziehung von Flüchtlingen "stieg die Zahl wohnungs- und obdachloser Menschen zwischen 2014 und 2016 nur um 25 Prozent, nämlich von 335.000 auf 420.000 Personen" und nicht auf 860.000, heißt es in der Untersuchung. FEANTSA-Chef Freek Spinnewijn sieht auch bei diesem Thema die neue große Koalition unter Angela Merkel in der Pflicht. Sie sollte "Wohnungs- und Obdachlosigkeit und Wohnen umso mehr zu einer Priorität machen, um diese tickende Zeitbombe zu bremsen."