"Nicht unser Kampf": Arabische Länder und Ukraine-Krieg
27. April 2022Eine Weile schien ihr Entschluss zu stehen: Sie würden in die Ukraine gehen und sich den internationalen Freiwilligen anschließen, die auf Seiten Kiews gegen Russland kämpfen. Denn die Bomben, die Putin auf die Ukraine werfen lässt, erinnerten sie an jene, die einst ihre Heimatstadt Aleppo verwüsteten. Verantwortlich für die Zerstörung waren das Assad-Regime und dessen wichtigste Schutzmacht: Russland. Doch dann überlegten die drei jungen Syrer es sich anders: Sie würden sich an dem Kampf nicht beteiligen.
"Warum sollten wir in einem fremden Krieg kämpfen?", sagt einer von ihnen im Gespräch mit der DW. Die drei Freunde, alle Anfang 30, sind Flüchtlinge und leben seit 2015 in Deutschland. Ihre Namen wollen sie nicht veröffentlicht sehen.
"Wir haben unsere eigenen Probleme", sagt ein anderer. "Assad ist immer noch an der Macht, die Russen unterstützen ihn weiterhin - und niemand interessiert sich dafür." Ihre Heimat, deuten sie an, werde vom Westen alleine gelassen.
Längst nicht alle Syrer sind dieser Ansicht, im Gegenteil: Viele haben sich an Solidaritätskundgebungen für die Ukraine beteiligt, auch in Deutschland. Und doch haben viele Menschen in den arabischen Ländern der MENA-Region (Nahost und Nordafrika) ein ambivalentes Verhältnis zu dem Krieg im Osten Europas.
Vorwurf der Heuchelei
Dieses spiegelt sich auch in den Medien. Kommentatoren großer arabischer Zeitungen attestieren dem Westen eine heuchlerische Politik. Der Westen pflege eine Doppelmoral, so ein oft gelesenes Argument: Während er sich für die Ukraine sehr engagiere, seien ihm die Konflikte in Afghanistan, Irak, Syrien und die Lage der Palästinenser gleichgültig. Auch der Umgang mit Flüchtlingen aus dem Nahen Osten sei alles andere als engagiert.
"Wenn Sie Putin für einen Verbrecher halten, weil er militärisch gegen die Ukraine vorgegangen ist, und Sie dann nicht dasselbe über George Bush Jr., Dick Cheney, Donald Rumsfeld und Colin Powell denken, die einst den Irak besetzten, dann funktioniert Ihr Hirn nicht richtig", twitterte Ahmad al-Farraj, Kolumnist der konservativen saudischen Tageszeitung Al Jazirah.
Das sehen teils auch westliche Nahost-Beobachter so. Die Tragödie in Syrien "hat im Westen keine Reaktionen hervorgerufen, die auch nur ansatzweise der Solidarität mit der Ukraine vergleichbar wären", schreibt etwa Michael Young vom Carnegie Middle East Center.
So manch einfacher Bürger sieht die Ukraine als Bühne eines imperialistischen Krieges. "In der Ukraine sieht man die schmutzige Konkurrenz zwischen Amerika, Russland und Europa", sagt etwa Mohammed Filali, ein Apotheker aus Rabat, der DW. "Die drei konkurrieren auf dem Territorium der Ukraine, und das ukrainische Volk zahlt dafür einen hohen Preis", so der Marokkaner.
Eher US-kritisch als pro-ukrainisch
Meinungen wie diese sind in der Region des Nahen Ostens und Nordafrika nicht ungewöhnlich. Im "Arab Opinion Index 2019-2020", einer in 13 arabischen Ländern durchgeführten repräsentativen Umfrage, äußerte sich über die Hälfte - 58 Prozent - der Befragten negativ über die US-amerikanische Nahost-Politik. Die Politik Moskaus hingegen hingegen sahen nur 41 Prozent der Befragten ähnlich kritisch. Dieses Stimmungsbild ist seit über einem Jahrzehnt in etwa konstant.
Die meisten Menschen der Region, gibt der Arab Opinion Index zu erkennen, sorgen sich vor allem um die Entwicklung in ihren eigenen Ländern - allen voran die der Wirtschaft. Mehr als der Hälfte der Befragten - 57 Prozent - machen sich Sorgen um deren Zukunft. Für sie sind Arbeitslosigkeit, Inflation und Armut die größten Herausforderungen. Auch Korruption und Fragen der politischen Stabilität beunruhigen viele der Befragten.
Sorge vor wirtschaftlichen Folgen
Viele Bürger in arabischen Ländern sehen allerdings auch einen Zusammenhang zwischen dem Krieg in der Ukraine und größer werdenden Problemen in ihren Heimatländern. Er verfolge die Situation in der Ukraine sehr aufmerksam, sagt etwa Mohammed Karim aus Bagdad. "Der Krieg hat auch Auswirkungen auf den Lebensunterhalt der Menschen hier", so der 39-Jährige zur DW. "Er hat bereits zu einem Anstieg der Preise und der Verknappung einiger Waren geführt."
Die Ukraine und Russland exportieren traditionell erhebliche Mengen an Weizen und Speiseöl in den Nahen Osten. Durch den Krieg hat sich das geändert, befürchtet wird deshalb vielerorts eine Verschärfung der ohnehin schon lange schwelenden wirtschaftlichen Krisen bis hin zu einer handfesten Ernährungskrise mit sozialen Unruhen. Die Preise für Weizen und Speiseöl - ebenso für Benzin - sind in den letzten Wochen erheblich gestiegen, ein Umstand, der beispielsweise in einigen Teilen des Irak bereits zu Protesten geführt hat.
Regime wollen Moskau nicht verärgern
Vorsichtig zeigen sich auch die überwiegend autoritären Regierungen der Region. Bei der Abstimmung der Vereinten Nationen über die Aussetzung der russischen Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat unterstütze nur ein arabisches Land den Antrag, nämlich Libyen.
Zwar stimmten nur zwei Länder - Syrien und Algerien - ausdrücklich gegen den Antrag. Doch bemerkenswert ist, dass die ganz überwiegende Mehrheit sich unentschieden zeigte: Sie enthielten sich entweder der Stimme oder nahmen erst gar nicht an der Sitzung teil.
Die meisten dieser Länder pflegen bis heute zwar freundschaftlichen Beziehungen zu den USA, sind nicht selten auch Empfänger von amerikanischen und europäischen Hilfen unterschiedlicher Art. Aber sie willen auch ihr Verhältnis zu Russland nicht gefährden, zumal viele Regime der Region Moskau als einen "Partner" kennen und sicherlich auch schätzen, der anders als westliche Länder keine für sie unbequemen Fragen oder sogar Forderungen im Bereich von Menschenrechten und Meinungsfreiheit stellt.
"Der Irak hat richtig entschieden", kommentiert denn beispielsweise auch der irakische Journalist Rami al-Saleh die Enthaltung seines Landes bei der Abstimmung. "Sämtliche in diesem Jahrhundert geführte Kriege haben Auswirkungen weit über die Grenzen der kriegsführenden Parteien hinaus. Was den Irak angeht, so muss er überall seine Verbündeten behalten, sowohl mit Blick auf seine wirtschaftlichen Probleme, als auch für den Kampf gegen den Terror."
Tatsächlich hätten die meisten Staaten der Region bei der UN-Abstimmung die real existierende multipolare Weltordnung berücksichtigt, sagt Samuel Ramani, Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Oxford in Großbritannien. "Für sie ist Russland eine der Säulen der derzeitigen Weltordnung".
Redaktionelle Mitarbeit: Abdessamad Jattioui, Marokko, und Ibrahim Saleh, Irak.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.