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Zahl der Atomwaffen sinkt, Gefahr wächst

Natalie Alix Muller / AN15. Juni 2015

Die Nuklearmächte investieren derzeit viel Geld in die Modernisierung von Atomwaffen. In ihrem Jahresbericht warnen die SIPRI-Forscher vor den Folgen der Ukraine-Krise und einem gefährlichen Wettrüsten in Asien.

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Strategische Nuklearrakete Topol-M während einer Parade in Moskau (Foto: Reuters)
Strategische Nuklearrakete Topol-M während einer Parade in MoskauBild: Reuters/Host Photo Agency/RIA Novosti

Die Zahl der Atomsprengköpfe sinkt, aber die von US-Präsident Barack Obama nach seinem Amtsantritt skizzierte atomwaffenfreie Welt lässt noch lange auf sich warten. Zu diesem Ergebnis kommt der Jahresbericht des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), der die Investitionen in die Modernisierung der Arsenale detailliert auflistet. "In der Praxis sehen wir eine Welt von reduzierten, aber modernisierten Atomwaffenarsenalen", so der leitende SIPRI-Forscher Shannon Kile im DW-Interview.

Zu Beginn des Jahres 2015 gab es laut SIPRI-Bericht schätzungsweise 15.850 Atomwaffen in neun Nuklearstaaten: USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Das sind rund 500 Sprengköpfe weniger als das renommierte schwedische Institut 2014 errechnet hat.

Der Rückgang bezieht sich vor allem auf die beiden größten beiden Atommächte Russland und die Vereinigten Staaten. Beide Länder haben veraltete Waffen ausgemustert und ihre Lagerbestände seit dem Ende des Kalten Krieges massiv gesenkt. Gleichzeitig unterhalten die früheren Supermächte teure Investitionsprogramme, um ihre nuklearen Trägersysteme und Gefechtsköpfe zu modernisieren.

Infografik Stand der Atomwaffenarsenale weltweit 2015 (DW)

Anfänge eines Wettrüstens?

Die aufstrebende Militärmacht China investiert ebenfalls viel Geld in die Modernisierung seines Atomwaffenlagers. Nach Angaben von SIPRI ist die Zahl der chinesischen Waffen von 250 auf 260 im vergangenen Jahr gestiegen.

Einen noch besorgniserregenderen Trend erkennt Forscher Kile in Südasien, wo Indien und Pakistan ihre Kernwaffenlager ausbauen. Die beiden Rivalen haben ihre Fähigkeit erhöht, spaltbares Material für Atomwaffen zu produzieren, so dass die Größe ihrer Arsenale sich "in den kommenden zehn bis 15 Jahren verdoppeln oder sogar verdreifachen könnte". Diese Entwicklungen vergrößern zum einen die Furcht vor einem erneuten Wettrüsten in der Region und erhöhen zum anderen die Gefahr des Einsatzes von Atomsprengköpfen in militärischen Konflikten in Asien.

"Es ist nicht nur ein Wettrüsten zwischen Indien und Pakistan", analysiert Oliver Meier, Proliferations-Experte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Auch China ist ein Teil der Gleichung, so dass wir es hier mit einem Dreieckswettrüsten zu tun haben. Das ist etwas, das wir bislang nicht kannten."

Porträt - Dr. Oliver Meier (Foto: privat/DW)
Oliver Meier von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)Bild: SWP

Indien und Pakistan haben zudem den Atomwaffensperrvertrag, der die Abrüstung zu seinen wichtigsten Zielen nennt, bislang nicht unterzeichnet. Auch aus diesem Grund, so Meier, sollte die internationale Gemeinschaft Druck auf diese Länder ausüben, damit "ein Dialog über nukleare Vertrauensbildung entsteht und mehr Transparenz über die Kernwaffenbestände ermöglicht wird".

Russland und der Westen

Neben den regionalen Auswirkungen eines Rüstungswettlaufs in Südasien beschäftigen die Folgen der der Ukraine-Krise die Sicherheitsexperten vom SIPRI. Die russische Annexion der Krim im März 2014 und der anschließende separatistische Aufstand im Osten der Ukraine hat die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen so stark belastet wie nie zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges. "Die Krise in der Ukraine wird sicherlich Auswirkungen haben auf die Atompolitik Moskaus", prophezeit Meier. "Russland misst den Atomwaffen wieder eine größere Bedeutung bei - auch den Atomwaffen kurzer Reichweite, die in Europa stationiert sind."

Anfang dieses Jahres erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, dass er während der Krim-Krise bereit gewesen sei, Atomwaffen einzusetzen, um die Annexion der Krim-Halbinsel zu gewährleisten und provozierte damit einen Aufschrei der NATO. Russland und die USA haben sich in den vergangenen Jahren wiederholt gegenseitig beschuldigt, Rüstungskontrollverträge zu verletzen.

Russische Soldaten während der Annexion der Krim (Foto: Reuters)
Krim-Krise: Ohne Atomwaffen war die Ukraine gegen die "grünen Männchen" aus Moskau machtlosBild: Reuters

Laut SIPRI-Recherchen hat Russland seine Lagerbestände von Atomsprengköpfen seit Anfang 2014 von 8000 auf 7500 reduziert - die USA haben im gleichen Zeitraum die Zahl ihrer Waffen von 7300 auf 7260 verringert. Im Jahresbericht wird allerdings darauf hingewiesen, dass sich das Tempo dieses Abbaus verlangsamt.

"Ehrlich gesagt gibt es keine rosigen Aussichten für zukünftige Reduzierungen", erklärt SIPRI-Forscher Shannon Kile. "Wenn überhaupt irgendwas passiert, werden wir neue Stationierungen von Atomwaffen mittlerer Reichweite und Größe in Europa sehen."

Lehren aus der Ukraine-Krise

Eine womöglich noch weiter gehende Folge der Ukraine-Krise für die Nichtverbreitung von Atomwaffen erläutert Giorgio Franceschini von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt und verweist auf die Geschichte nach dem Untergang der Sowjetunion. Damals hatte sich Kiew im Austausch gegen Sicherheitsgarantien von Russland, den USA und Großbritannien entschieden, seine fast 4000 Atomwaffen Moskau zu überlassen.

"Der Verlauf der Ukraine-Krise ist nun eine fürchterliche Botschaft für all jene Staaten, die vor der Entscheidung stehen, sich mit Atomwaffen auszurüsten oder nicht." Der Nuklear-Experte verweist in diesem Zusammenhang auf den Iran. Das Land verhandelt aktuell über sein Atomprogramm mit Frankreich, Deutschland, Großbritannien, China, Russland und den USA . "Also, was könnte die iranische Führung nun denken?", sorgt sich Franceschini. "Die Ukraine war 1994 die drittgrößte Atommacht der Welt. Danach hat Kiew seine Waffen an Russland abgegeben. Und heute? Schauen Sie sich die Lage des Landes an…"

Porträt Giorgio Franceschini (Foto: privat(DW)
Nuklear-Experte Giorgio FranceschiniBild: HSFK