Sierens China: Zahlendreher
9. September 2015Erst vergangenen Montag hat die Volksrepublik China das Wirtschaftswachstum für das gesamte vergangene Jahr nach unten korrigiert. Warum und auf welcher Basis, lässt sich von außen nicht nachzuvollziehen. Statt der 7,4 Prozent ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt nur um 7,3 Prozent gewachsen, so die Nationale Statistikbehörde in Peking. Das hat natürlich wieder einmal Diskussionen darüber ausgelöst, wie verlässlich die chinesischen Wirtschaftsdaten sind. Und selbstverständlich muss die Antwort lauten, dass die chinesischen Statistiker die Zahlen zumindest nach eigenem Gutdünken interpretieren. Und natürlich gibt es politische Vorgaben. Wie die kommunistische Partei die Medien steuert, so steuert sie auch die Zahlen.
Das bedeutet jedoch wiederum nicht, dass sie die Zahlen willkürlich manipuliert. Im Gegenteil. Man kann durchaus für die vergangenen 20 Jahre feststellen, dass die meisten Zahlen in ihrer Relation zueinander plausibel erscheinen. Das bedeutet aber immer noch nicht, dass sie stimmen.
Es ist schon erstaunlich, dass Peking in diesem Jahr gleich zweimal eine Punktlandung hingelegt hat. Jeweils genau sieben Prozent betrug das BIP Chinas in den vergangenen zwei Quartalen. Es ist erstaunlich, aber nicht unmöglich. Und deswegen entstehen die unterschiedlichsten Einschätzungen: Commerzbank-Chef Martin Blessing hatte die von der chinesischen Regierung veröffentlichten Zahlen zum Wirtschaftswachstum des Landes erst vor Kurzem infrage gestellt. Bei der Deutschen Bank hingegen hält man die Krisenangst für übertrieben.
Unzuverlässige Daten kein Einzelfall
Dass Zahlen kaum verifizierbar sind, gilt natürlich nicht nur für China, sondern auch für andere Volkswirtschaften. Wir erinnern uns an die amerikanischen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, als der Staat nicht wusste, was die Banken für Risiken in ihren Büchern hatten. Ja nicht einmal die Banken selbst wussten es. In China ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Zahlen falsch sind, noch viel größer. China ist viel unübersichtlicher und in den vergangenen beiden Dekaden sehr schnell gewachsen. Dennoch sind wir den Pekinger Zahlendrehern nicht hilflos ausgeliefert. Denn es gibt Zahlen, die sich kaum fälschen lassen.
Dazu gehören die Exporte, die man mit den internationalen Zahlen gegenchecken kann, und die Devisenreserven, weil sie international angelegt sind. Aber auch die Auslandsschulden und der Wechselkurs des Yuan zum US-Dollar. Anhand dieser Werte kann man zumindest große Krisen einschätzen. Und nach diesen Werten ist die Lage in China schwierig aber nicht ernst. Die Exporte sind im August noch einmal um über 6 Prozent zurückgegangen. Die Auslandschulden sind mit 1,67 Billionen Dollar sehr gering. Die Devisenreserven sinken leicht, sind aber mit 3,56 Billionen Dollar noch sehr, sehr hoch. Und der Yuan ist trotz der jüngsten Abwertung noch sehr hoch bewertet.
Tiefe Rezession derzeit nicht in Sicht
Eine tiefe Rezession – wie in Brasilien mit minus zwei Prozent Wachstum oder in Russland – ist in China weit und breit nicht in Sicht. Die Stabilität der chinesischen Wirtschaft wäre ernsthaft in Gefahr, wenn drei verlässlich messbare Entwicklungen zusammenkommen: Der Yuan würde zweistellig abgewertet, um die Wirtschaft anzukurbeln. China würde über eine Billion Dollar an Devisenreserven abbauen müssen. Und schließlich müsste sich China im Ausland verschulden. Wir können also eine große Krise derzeit ausschließen.
DW-Kolumnist Frank Sieren lebt seit 20 Jahren in Peking.