Von Chinas Virus-Wissen lernen
5. März 2020Nach Wochen der Anspannung beruhigt sich die Viruskrise in China. Am vergangenen Wochenende wurden erstmals mehr geheilte Menschen aus den Krankenhäusern entlassen als Neuerkrankungen aufgenommen. Am Dienstag meldete das Land 125 Neuinfektionen. Der niedrigste Wert seit Januar.
In der übrigen Welt breitet sich das Virus allerdings noch aus: Vergangene Woche gab es erstmals mehr Neuinfektionen außerhalb als innerhalb Chinas. Momentan gibt es rund 200 bestätigte Fälle in Deutschland. Nicht immer können die Infektionsketten noch nachvollzogen werden. Der erste Fall in Berlin wurde nur zufällig entdeckt.
Ähnlich wie zu Beginn der Epidemie in China herrscht nun auch in Deutschland Unsicherheit: Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken sind bereits ausverkauft. Die Menschen machen Hamsterkäufe. Mehrere Großveranstaltungen wurden abgesagt oder verschoben, darunter die weltgrößte Touristikmesse ITB in Berlin und die Buchmesse in Leipzig. Das Gesundheitsministerium rät bis auf Weiteres auf das Händeschütteln zur Begrüßung zu verzichten.
Von großflächiger Abriegelung oder dem Aussetzen des öffentlichen Nahverkehrs will bislang keiner ernsthaft sprechen. Einerseits gibt es noch zu wenig Fälle. Anderseits wissen die Politiker, dass eine massive Isolierung ganzer Metropolregionen wie in China in Deutschland kaum möglich wäre. Selbst Kontrollen und Fiebermessstellen an Bahnhöfen, Flughäfen, Shoppingmalls oder sogar Restaurants sind hier kein Thema.
Italien handelt ähnlich wie China
Die Italiener haben deutlich mehr Fälle und orientieren sich deshalb mehr an den Methoden der Chinesen. Auch in Italien sind kurzerhand ganze Städte von der Außenwelt abgeriegelt worden. Die Weltgesundheitsorganisation hält die Maßnahmen Pekings nicht für überzogen.
Im Gegenteil: Es sei "die womöglich ambitionierteste, schnellste und aggressivste Anstrengung zur Krankheitseindämmung in der Geschichte", heißt in einem Bericht eines 25-köpfigen Expertenteams unter der Leitung der WHO, das bis 24. Februar in China unterwegs war, um vom dortigen Umgang mit der Epidemie zu lernen - darunter auch Mitarbeiter des Robert-Koch-Instituts. Epidemie-Experte Bruce Aylward, der die Mission leitete, ist überzeugt, dass "ein großer Teil der Weltgemeinschaft, sowohl in der Geisteshaltung als auch materiell" nicht bereit sei, solche Maßnahmen wie in China zu Lasten der Bevölkerung zu ergreifen.
Es stimmt: Die Bevölkerungen würden die Einschränkungen ihrer individuellen Freiheit wohl nicht einfach so hinnehmen. Die Stimmung könnte dann auch in Europa schnell in Wut umschlagen. Das gilt auch für den Datenschutz.
In China, aber auch Südkorea und der Sonderverwaltungszone Hongkong kann man mittlerweile per App nachverfolgen, wo in der Nachbarschaft Virusfälle aufgetreten sind. Das ist mit dem europäischen Verständnis von Privatsphäre überhaupt nicht vereinbar. In China wurden im Fall bekannter Virusinfektionen auch gleich ganze Wohnblöcke abgeriegelt. Auch das ist in Europa nicht möglich. Das System der typisch chinesischen Compound-Wohnkomplexe mit eigenem Wachmann und hydraulischem Gitter gibt es hier schlicht nicht. Auch gibt es keine Nachbarschaftskommitees, die zum Beispiel die Einhaltung der Maskenpflicht überprüfen oder das Fiebermessen übernehmen könnten.
In China gibt es diese kleinsten administrativen Einheiten des Staates schon seit den 1950er-Jahren. Sie sorgen "für Ordnung" im Haus. Das kann Überwachung und Spitzelei durchaus miteinschließen. Das war während der Kulturrevolution allerdings noch häufiger der Fall als heute. Deutschland hat diese Blockwart-Mentalität längst hinter sich gelassen und alles was auch im Entfernten danach ausschaut, regt bei vielen reflexartigen Widerstand. Epidemie hin oder her.
Besser ausgebautes Gesundheitssystem
Das Glück Deutschlands ist momentan noch, dass es im Gegensatz zu China hier ein etwas besser ausgebautes Gesundheitssystem und etwas höhere Hygiene-Standards gibt. Zudem ist Deutschland weniger dicht besiedelt als China mit seinen 65 Millionenstädten. Trotzdem muss sich Deutschland ernsthaft Gedanken machen, ob es einem größeren Virusausbruch jetzt und in Zukunft gewachsen ist und was noch ausgebaut werden sollte.
Laut der europäischen Infektionsschutzbehörde ECDC kann Deutschland zwischen 25.000 und 50.000 Krankenhausbetten in isolierte Einzelzimmer umwandeln. Bundesweit existieren zudem rund 28.000 Krankenhausbetten, in denen schwer erkrankte Patienten künstlich beatmet werden können. Das ist auch im europäischen Vergleich nicht schlecht.
Medizinische Ganzkörper-Schutzausrüstung wie man sie zuletzt in chinesischen Krankenhäusern gesehen hat, könnten jedoch mancherorts schnell knapp werden. Und auch ohne erkranktes Pflegepersonal könnte der Mangel an medizinisch geschulten Einsatzkräften in Deutschland schneller als anderswo zum Problem werden. Der deutsche Krisenstab plant nun immerhin, mehr medizinische Schutzausrüstung wie Atemschutzmasken, Handschuhe und Anzüge zu beschaffen. Dafür sollen Produktionskapazitäten in Deutschland erhöht und "mit europäischen Partnern gebündelt" werden.
Geschwindigkeit ist Chinas Stärke
Wie und wie schnell das vor sich gehen soll, ist allerdings noch unklar. Viele der medizinischen Produkte werden in China produziert. Und da besteht nach wie vor viel Eigenbedarf. "Ich denke, der Schlüsselfaktor, den wir von China lernen sollten, ist Geschwindigkeit", sagt WHO-Epidemiologie Bruce Aylward. "Umso schneller man Fälle findet und sie isolieren kann, umso erfolgreicher werden wir bei der Eindämmung sein." Dabei geht es vor allem auch um den schnellen Zugang zu Daten, von Passagierlisten in Flugzeugen über Teilnehmerlisten von Veranstaltungen bis hin zu Bildern aus den Überwachungskameras der U-Bahnen. Ein schwieriges Thema in Deutschland.
Um milde Fälle zu isolieren, könnten auch sogenannte "Shelter Hospitals" sinnvoll sein, so wie sie in Wuhan innerhalb weniger Tage aus dem Boden gestampft wurden. Menschen, die keine ernsten Symptome haben, können dort unter Quarantäne behandelt werden, ohne Intensivbetten zu besetzen oder andere medizinische Ressourcen zu blockieren. Auch die Ansteckungsgefahr von Familienmitgliedern könnte im Gegensatz zur häuslichen Quarantäne so reduziert werden. Aber das schränkt individuelle Freiheiten ebenfalls erheblich ein. Die Menschen in Europa werden sich kaum freiwillig auf eine Einweisung in Turnhallen oder Kasernen einlassen.
Schneller als der Westen ist China inzwischen, wenn es um die Verfügbarkeit und Geschwindigkeit der Virus-Tests geht. Die Ergebnisse liegen meist schon nach vier bis sieben Stunden vor. In Deutschland sind es oft mindestens 24. Und noch immer übernehmen die Krankenkassen nicht automatisch alle Kosten für den Test. Selbst bei Reiseeinschränkungen ist Europa im Gegensatz zu China momentan noch sehr zögerlich. Dass sich die Situation jedoch schlagartig verschärfen kann sieht man derzeit nicht nur in Italien, sondern auch in Südkorea.
Wichtig in Krisenzeiten ist digitale Infrastruktur
Gleichzeitig zeigt sich dort - wie zuvor auch schon in China - wie wichtig in diesen Krisenzeiten eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur sein kann. In der Quarantäne bleiben Südkoreaner wie Chinesen über das Internet in Kontakt, sie informieren sich, streamen ihren Alltag, teilen ihre Sorgen und lenken sich mit einem massiven Online-Unterhaltungsangebot ab.
Viele Dienstleister haben schnell Online-Kurse in ihr Angebot aufgenommen, vom Fitnessstudio bis hin zu den öffentlichen Schulen. Selbst im abgeschotteten Epizentrum Wuhan funktionieren die Online-Lieferdienste für Essen und Medikamente nach wie vor einwandfrei, auch wenn man die Lieferung jetzt nicht mehr persönlich an der Tür empfängt, sondern sie am Gitter der Wohnkomplexe abholt. Via Apps können Erkrankte zudem einfach ihre Rezepte für Medikamente verlängern, ohne dafür einen Arzt aufsuchen zu müssen und weitere Menschen anzustecken.
Eins ist klar: Panik und Hysterie sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht angebracht - weder in Deutschland noch sonst wo in Europa. Sich schon einmal zu überlegen, welche Maßnahmen man wie auf die gesellschaftlichen Gepflogenheiten in Europa anpassen kann, dürfte aber nicht schaden. Denn in der Globalisierung gilt: Nach dem Virus ist vor dem Virus.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.