Sorgenfalten statt Dankbarkeit
16. November 2015Das hat es in China noch nicht gegeben: Um Solidarität mit Frankreich zu signalisieren, leuchtete am Wochenende der Oriental Pearl Tower in Schanghai in den Farben der Trikolore. So wie auch das Brandenburger Tor und andere Wahrzeichen weltweit.
Dass Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping die tödlichen Anschläge in Paris als "barbarische Terrorakte" bezeichnete, war hingegen zu erwarten. Er sprach den Opfern und ihren Angehörigen bereits am Samstag sein tiefes Beileid aus - noch bevor er in den Flieger zum G20-Gipfel in die Türkei stieg. Gleichzeitig bot Xi an, dass China eng mit der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen den Terrorismus zusammenarbeiten wolle. Denn Peking kämpft tief im Westen des Landes ebenfalls gegen die Terrororganisation IS. China hat gemeinsame Grenzen mit Afghanistan und Pakistan.
Auch China hat ein Islamisten-Problem
Nicht zufällig veröffentlichten chinesische Staatsmedien am Samstag seltene Bilder von bewaffneten Einheiten, die Terrorgruppen in der westlichen Region der Problemprovinz Xingjiang bekämpfen. Die Bilder zeigen schwarz gekleidete Polizisten mit Sturmhauben, die im Begriff sind, ein Haus in einer ländlichen Region zu stürmen. Dazu heißt es: "Paris wurde von einer der schlimmsten Terrorattacken in der Geschichte getroffen, mit Hunderten von Toten und Verletzten. Auf der anderen Seite der Welt haben Polizisten in Chinas Provinz Xingjiang nach 56 Tagen Verfolgung und Attacken einen erfolgreichen Angriff auf die Terroristen ausgeführt und großartige Ergebnisse erlangt." Die Informationen stammten von einem Mikroblog der Staatssicherheit. Dort wurden sie bald darauf wieder gelöscht. Sie verbreiten sich dennoch weiter im Netz.
Die Botschaft mag in China ihre Wirkung haben, im Westen funktioniert sie nicht: Sie löst bei den meisten keine Dankbarkeit oder zumindest Beruhigung aus, sondern sorgt eher für Sorgenfalten. Denn Pekings Fahnder gehen mit nicht gewalttätigen Minderheiten oder Dissidenten zuweilen so um, wie der Westen mit gewalttätigen Terroristen. Es wird erst geschossen und dann überlegt. Mit vermeintlichen Sympathisanten und Drahtziehern wird im wahrsten Sinne des Wortes kurzer Prozess gemacht.
Harte Hand erzeugt erst Extremismus
Ein Beispiel ist die Verhaftung von Ilham Tothi im Herbst vergangenen Jahres. Er wurde nach einem nur zweitägigen Verfahren zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Ihm hat man vorgeworfen, ein "kriminelles Syndikat" für uigurischen Separatismus gegründet zu haben. Ob das stimmt oder nicht, lässt sich nicht nachvollziehen. In China hat die Verurteilung einerseits eine abschreckende Wirkung. Andererseits wird die Verurteilung des Pekinger Professors Tothi als so ungerecht empfunden, dass sie bisher gemäßigte chinesische Muslime nun erst recht in den Untergrund getrieben hat. Sie sind nun gewaltbereiter denn je. Ihre Wut darüber, dass der Rechtsstaat von den Sicherheitsbehörden und der Partei jederzeit ausgehebelt werden kann, ist groß.
In Europa ist das Verständnis für harte Vorgehensweisen seit dem Pariser Blutbad so groß wie nie. Die Amerikaner fühlen sich an den 11. September 2001 erinnert. Dennoch ist zwischen Chinas Durchgreifen und dem französischen Ausnahmezustand noch immer ein großer Unterschied. In Frankreich dürfen die Fahnder zwar nun zum Beispiel ohne richterlichen Beschluss in Wohnungen eindringen. Sie dürfen Verdächtige ohne Haftbefehl vorübergehend verhaften. Sie dürfen, wie in China, sogar Versammlungen auflösen und Ausgangssperren verhängen. Dennoch haben die Opfer des Ausnahmezustandes hinterher die Möglichkeit, dagegen zu klagen. Sie können sich zudem an die Medien wenden. Es besteht also zumindest die Möglichkeit, dass überzogene Übergriffe geahndet werden. In China ist das nicht so.
Das macht Peking zu einem schwierigen Alliierten im Kampf gegen den so genannten "Islamischen Staat" (IS). Und zwar unabhängig davon, wie bedroht China vom IS ist und wie sehr China und der Westen in dieser Frage nunmehr in einem Boot sitzen. Erst Ende vergangenen Jahres hat der IS China zu einem der größten Feinde des Islam erklärt. Immer wieder kam es zu heftigeren Anschlägen: Im Sommer vergangenen Jahres gab es eine blutige Messerattacke auf einem Bahnhof in Kunming und auf einen Markt in Urumqi, bei denen jeweils über 30 Menschen starben. Die meisten wurden Opfer, weil sie wie in Paris, zufällig am falschen Ort waren. Erst im Oktober hatten mehrere Uiguren in Aksu rund 50 Arbeiter und fünf Polizisten anlässlich des 60. Jubiläums der uigurischen Autonomiebestrebungen in einem Schlafsaal einer Mine getötet.
Keine Solidarität mit China
Über eines kann Peking dabei zu Recht verstimmt sein: Die westliche Welt hat nach den Attentaten in China nicht die gleiche Solidarität gezeigt, wie bei den Attentaten in der eigenen Region. Und das, obwohl in beiden Fällen unbeteiligte Menschen Opfer barbarischer Aktionen von Terroristen wurden. Das gebietet der menschliche Anstand jedoch. Peking hätte allen Grund, nun ebenfalls reserviert zu reagieren. Zumal man in Peking davon überzeugt ist, dass der Westen mit seinem Einmarsch im Irak und in Afghanistan, mit seiner militärischen Einmischung in Libyen, Ägypten und Syrien sowie der Isolation des Iran entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich der IS überhaupt erst entfalten konnte. Peking hält den Versuch für gefährlich und naiv, durch militärisches Eingreifen in der Region Gleichgewichte nach eigenem Gusto herzustellen. Und es hat sich herausgestellt, dass diese Einschätzung nicht falsch ist.
Peking hingegen setzt schon seit Jahren durch Verhandlungen und vor allem durch wirtschaftliche Zusammenarbeit darauf, die vorhandenen Gleichgewichte so zu stabilisieren, dass keine Gruppe zu viel Macht bekommt. Immer mehr Politiker im Westen halten diesen Weg nunmehr für sinnvoller. Und der Druck, mit China zu kooperieren, wird größer. Das ist offensichtlich auf dem G20-Gipfel, der im türkischen Badeort Belek staatfindet. Die Kooperation des Westens mit China gegen die Terroristen wäre allerdings viel einfacher, wenn China rechtsstaatlicher wäre.
Unser Korrespondent Frank Sieren gilt als einer der führenden deutschen China Spezialisten. Er lebt seit 20 Jahren in Peking.