Mehr Markt wagen!
6. März 2015"Der Markt entscheidet, ob ein Unternehmen überlebt." Das war einer der wichtigsten Sätze der anderthalbstündigen Rede von Premierminister Li Keqiang zum Auftakt des diesjährigen Nationalen Volkskongresses. Die Staatsbetriebe, einst Hort der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität, spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Sie sind Übernahmekandidaten für Privatinvestoren. Und für sie gilt mehr denn je: Überkapazitäten abbauen. Mittlere, Klein-, und Kleinstbetriebe hingegen "können ganz groß sein", betonte Premier Li. Der Staat soll sich mehr aus der Wirtschaft heraushalten und mehr Macht in die Provinzen delegieren. Die Zahl der Branchen, die für ausländische Investoren geöffnet werden, soll sich verdoppeln. Chinas Wirtschaft steht also vor einem neuen großen Umbau in Richtung Marktwirtschaft - ganz im Sinne des großen Reformers Deng Xiaoping.
Massiver Umbau mit klaren Vorgaben
Die Marktkräfte bekommen allerdings Leitplanken: Die Umwelt muss geschont werden, dem benachteiligten Westen des Landes geholfen werden, soziale Schwache unterstützt werden, Wohnungen bezahlbar bleiben. Und Innovation ist wichtiger als stumpfsinniges, hohes Wachstum. Chinas Wirtschaft sei "ineffizient", betonte der Premier. Die Probleme seien im vergangenen Jahr größer geworden "als wir erwartet haben". Li schätzt also die Schwächen des Landes nüchtern ein, sieht die Herausforderung und Chancen von Chinas wirtschaftlichem Umbau realistisch, macht sich jedoch keine Illusionen über die Größe der Aufgabe. Wobei er diese noch etwas deutlicher hätte formulieren können. Dieses Umbauexperiment für ein Volk von 1,4 Milliarden Menschen hat es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben und niemand weiß, wie es ausgeht.
Alles in allem war es eine pragmatische Rede. Li arbeitet - wie von Deng einst angestoßen -"die Wahrheit aus den Fakten heraus". Dazu gehört auch, dass das Militär in seiner Rede erst und nur auf Seite 37 seiner 39seitigen Rede vorkam. Das muss bitter sein für die einst mächtigen Generäle. Außenpolitik ist für Premier Li vor allem Wirtschaftspolitik: Investitionen chinesischer Unternehmen im Ausland sollen vereinfacht werden, neue Freihandelszonen verhandelt und die einstige Seidenstraße wiederbelebt werden.
Ziele, die auch dem Westen vertraut sind
Li hat deutlich gemacht, was er mit der Formulierung "neue Normalität" meint, dem Slogan für langsames aber qualitativ hochwertiges Wachstum. Oder wie es die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" treffend formuliert: "Das Wirtschaftswunder geht weiter, nur anders."
All diese Ziele dürften für westliche Ohren eigentlich vertraut klingen. Manche westliche Beobachter haben dennoch Probleme, zu verstehen, wie China sich verändert. Sie sprechen voreilig von einer "machtvollen Schubumkehr". So nennt man die Vollbremsung, bei Tankern und Flugzeugen. Die Zeit der Deng'schen Reformen seien zu Ende befürchten andere, wieder andere glauben, dass China sich "abschottet" und "einigelt". Manche befürchten gar "einen Kampf gegen westliche Werte".
Und obwohl der Bildungsminister Yuan Guiren sich tatsächlich in dieser Richtung geäußert hat und die Führung schon seit einiger Zeit gegen Intellektuelle und Universitäten vorgeht, die ihnen allzu westlich inspiriert vorkommen: Diese Position findet sich weder ausdrücklich noch unterschwellig in der Rede von Premier Li wieder. Dass offene Debatten in den sozialen Medien verhindert und die akademische Freiheit an den Universitäten und den großen Think Tanks einschränkt wird, ist offensichtlich eher ein Thema der Partei und kein Thema der Regierung. Keine Spur davon, dass die Regierung China auf Kommunistische Linie bringen will.
Kritische Debatten punktuell möglich
Was aber unter keinen Umständen akzeptabel ist, dass Menschen in China aufgrund ihrer politischen Meinung eingesperrt werden. Wenn es jedoch darum geht, westliche Werte und vor allem westliche Fehlentwicklungen nicht ungeprüft zu übernehmen, könnten sinnvolle Debatten entstehen, die auch der Westen aufgreifen und nicht vorschnell als "anti-westlich" abtun sollte. Im Umweltbereich ist das zum Beispiel der Fall. Es ist kein Zufall, dass der sehr kritische Dokumentarfilm "Under the Dome" von der chinesischen Journalistin Chai Jing kurz vor der Tagung des Volkskongresses von der Zensur durchgewunken wurde, inzwischen von drei hundert Millionen Chinesen im Internet gesehen und sogar von Umweltminister Chen Jining gelobt wurde. In der Umweltdebatte ist also nun offensichtlich ein offener Ton möglich.
Dennoch wurde der Umfang der Debatte der Führung unheimlich und die Bedenkenträger aus der Staatsicherheit setzen sich Ende der Woche gegen die Reformer durch. Der Film wurde vom Netz genommen und die Berichterstattung über den Film abgeknipst. Die Menschen aber reden weiter über das Thema. Das all dieser Menschen diesen Film sehen durften, kann man natürlich nicht mehr zurückdrehen.
Im Wirtschaftsbereich, einem weiteren der zentralen Bereiche in Chinas Entwicklung ist nicht die Debatte, sondern auch die Politik ebenfalls sehr offen. Christian Lindner, der Chef der liberalen FDP in Deutschland, könnte, wenn seine Partei die Rückkehr ins Parlament nicht mehr schafft, sofort als Wirtschaftsminister in China anfangen, ohne sein wirtschaftliches Vokabular umstellen zu müssen. Was Bürgerrechte betrifft, müsste er allerdings einstweilen den Mund halten. Das ist ihm jedoch zu wichtig. Deswegen wird das erstmal nichts mit dem Job in Peking.
Insofern ist es überzogen, generell festzustellen, dass China im vergangenen Jahr unfreier gewesen sei, als im Jahr zuvor. Denn das stimmt nur für Teile der Gesellschaft - so unerträglich diese Entwicklung für den Einzelnen auch sein mag. Es riecht nur in manchen Ecken des Landes wieder verstärkt nach Mao. In anderen riecht es umso stärker nach Ludwig Erhard, Jack Ma und Al Gore.
Unser Kolumnist Frank Sieren gilt als einer der führenden deutschen China-Spezialisten. Er lebt seit 20 Jahren in Peking.