Nervenaufreibende Konfrontation
2. Juli 2020Nachdem an der umstrittenen Ländergrenze im westlichen Himalaya nach indischen Angaben 20 indische Soldaten Mitte Juni bei einer Prügelei mit chinesischen Truppen ihr Leben lassen mussten, haben Delhi und Peking klugerweise beschlossen, ihre Militärs aus der heißen Zone abzuziehen.
Dass das nur vorübergehend sein kann, ist jedoch klar. Keine der beiden Seiten will nachgeben. Peking behauptet, indische Truppen seien auf chinesisches Territorium vorgedrungen und hätten dabei chinesische Soldaten "provoziert und angegriffen". Delhi hingegen beharrt darauf, dass chinesische Soldaten die Demarkationslinie in der weiter westlich gelegenen Region Ladakh bereits im Mai eigenmächtig überschritten hätten. Zahlen über eigene Verluste wurden von chinesischer Seite nicht bestätigt.
Ungeklärter Grenzverlauf
Der teils ungeklärte Verlauf der 3500 Kilometer langen Grenze ist seit dem chinesisch-indischen Grenzkrieg von 1962, den China ohne signifikante Gebietsgewinne für sich entschied, ein immer wieder aufflammender Konfliktherd. Für die beiden asiatischen Großmächte geht es nicht nur ums Prinzip, sondern auch um die strategische Kontrolle von Ressourcen, allen voran Wasser. Wichtige Gletscher liegen in dem Gebiet.
1996 haben sich Delhi und Peking immerhin darauf verständigt, keine scharfe Munition mehr im Grenzgebiet einzusetzen. Ein deutliches Zeichen, dass beide Atommächte kein Interesse an einer Eskalation haben und auch der Grund dafür, warum die Soldaten nun eben mit Stöcken, Steinen und Fäusten aufeinander losgehen. Allerdings haben beide Seite in den vergangenen Wochen auch mehr Truppen in die Region verlegt.
Dass nun das erste Mal seit 1975 dennoch wieder Menschen ums Leben gekommen sind, ist tragisch und ein Rückschritt. Dennoch bleibt auch jetzt ein Krieg unwahrscheinlich: Beide Seiten reden weiter auf der Ebene von Zwei-Sterne-Generalen miteinander. Zhang Shuili, der Sprecher des chinesischen Oberkommandos der an den westlichen Grenzen stationierten Truppen, spricht von "Gesprächen als korrektem Weg des Dialoges", zu dem man jetzt "zurückkehren sollte".
Wirtschaftliche Folgen des Konflikts
Indien, das militärisch, wirtschaftlich und politisch schwächere der beiden Länder, reagiert allerdings schon mit wirtschaftlichen Sanktionen: 59 chinesische Apps wie WeChat oder TikTok wurden nun verboten, da sie die "nationale Sicherheit und Souveränität" Indiens gefährdeten. Der Verband der Hotel- und Restaurantbetreiber in Delhi will sogar keine chinesischen Gäste mehr in seinen rund 3000 Betrieben aufnehmen. Das ist einstweilen allerdings eher eine rhetorische Drohung: Die meisten Hotels der Stadt sind aufgrund der Corona-Maßnahmen ohnehin geschlossen. Der chinesische Smartphone-Hersteller Xiaomi, der einen Marktanteil von 30 Prozent in Indien hält, meldet, der Konflikt habe bisher keinen Einfluss auf die Verkaufszahlen gehabt.
Das Grundproblem: Indien gerät wirtschaftlich immer stärker in die Defensive. Der Einfluss der chinesischen Wirtschaft in Indien nimmt zu. Das Handelsbilanzdefizit mit China lag im vergangenen Jahr bei 48 Milliarden US-Dollar. Und Peking arbeitet wirtschaftlich im Rahmen der "Belt and Road"-Initiative immer enger mit Nachbarn Indiens zusammen - mit Feinden wie mit Freunden. Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka begrüßen das chinesische Engagement, weil es in der Region ein Gegengewicht zum indischen Nachbarn schafft und ihnen mehr Verhandlungsspielraum gibt, um eigene Interessen zu verteidigen. Pakistan, Indiens verhasster Gegenspieler, profitiert besonders von den Investitionen Chinas - auch beim Aufbau seiner Armee.
Die Coronakrise könnte die Abhängigkeit Indiens noch vergrößern, da sich China schneller von den Folgen erholt als Indien. Während China noch von einem - wenn auch kleinen - Wachstum ausgeht, ist es wahrscheinlich, dass die indische Wirtschaft zum ersten Mal seit 40 Jahren schrumpft. Insgesamt hinkt Indien der Volksrepublik auch bei Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit hinterher. Chinas Wirtschaft ist - an der Kaufkraft gemessen - knapp 240 Prozent größer. Zudem wächst Indiens Bevölkerung jährlich um 1,1 Prozent, China nur noch um 0,5. Damit wachsen die Belastungen, mehr Menschen zu versorgen.
Asiatisches Freihandelsabkommen nicht gefährden
Japan, Vietnam, Australien und andere Länder fordern nun, die Verhandlungen über das asiatische Freihandelsabkommen dennoch nicht zu verzögern. Die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) wird das größte Freihandelsabkommen der Welt. Die teilnehmenden Länder Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland sowie den zehn Asean-Staaten Indonesien, Malaysia, Thailand, den Philippinen, Vietnam, Myanmar, Brunei, Laos, Kambodscha und Singapur sind sich bereits mit China einig. Nur zwischen Delhi und Peking gibt es noch offene Fragen.
Die Inder fürchten, dass chinesische Produkte aufgrund der massiv gesenkten Zölle den indischen Markt überschwemmen und die lokalen Anbieter nachhaltig aus dem Rennen werfen werden. Die anderen asiatische Partnerstaaten hingegen befürchten, dass China in einer RECP, die ohne die Inder unterschrieben würde, zu stark wäre. Auch ohne Indien umfasst RCEP eine Freihandelszone, auf die fast ein Drittel des globalen Bruttoinlandsprodukts von etwa 17 Billionen US-Dollar entfällt. Das ist größer als alle anderen Handelsblöcke der Welt, die EU eingeschlossen. "Teil von RCEP zu sein ist im Interesse Indiens und würde der gesamten Region zum Wohlstand verhelfen. Wir werden weiter auf seine Rückkehr hinarbeiten", erklärte zum Beispiel ein Vertreter der japanischen Regierung vergangene Woche. In einer Stellungnahme der 15 RCEP-Staaten heißt es: "Wir möchten betonen, dass RCEP offen für Indien bleibt." Damit ist der Druck auf Delhi groß.
Gut ist, dass die Asiaten inzwischen offensichtlich in der Lage und willens sind, ihre Konflikte alleine zu lösen. Weder die USA noch die EU spielen in diesem Konflikt als Vermittler eine Rolle.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.