Sierens China: Ausgebremst
25. Oktober 2018Einmal mehr sind die Sorgen groß. Werden wir gerade Zeuge wie die "Weltwirtschaftslokomotive China" auf ihren unvermeidlichen Crash zusteuert und uns dabei mit in den Abgrund reißt? Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt wuchs in diesem Jahr so langsam wie seit dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise 2008 nicht mehr. Im ersten Quartal legte das Bruttoinlandsprodukt noch 6,8 Prozent zu, im zweiten 6,7 Prozent. Aber am vergangenen Freitag meldete das Statistikamt in Peking für das dritte Quartal nur noch ein Wachstum von 6,5 Prozent.
Ob man sich darüber Sorgen machen muss, ist Ansichtssache. Denn: Insgesamt liegt das Wachstum immer noch über der Vorgabe der Regierung von etwa 6,5 Prozent für das gesamte Jahr. Ein Wert also, von dem die meisten Länder nur träumen können. Die Industrieproduktion fiel im September mit einem Plus von 5,8 Prozent zwar etwas niedriger aus als erwartet, die Einzelhandelsumsätze legten im gleichen Monat dagegen mehr als geplant zu. Ebenso die Investitionsströme nach China, die im ersten Halbjahr um sechs Prozent auf 70 Milliarden Dollar zulegten. Auch der Außenhandel blieb robust, möglicherweise, weil Chinas Exporteure den Folgen des Handelsstreits mit den USA noch zuvorkommen wollten.
Noch steht die Wirkung der Strafzölle aus
Der Großteil der beiderseitig verhängten Strafzölle ist erst vergangenen Monat in Kraft getreten. Deshalb sind die Folgen in der Statistik noch nicht nachweisbar. Peking spricht jedoch bereits von "psychologischen Auswirkungen": Seit Januar ist die Schanghaier Börse um etwa 30 Prozent eingebrochen, der Yuan gab neun Prozent zum Dollar nach. Der Grund: Die chinesischen Verbraucher sind verunsichert. Der Pkw-Absatz auf dem größten Automarkt der Welt fiel im September zum dritten Mal in Folge - der erste Rückgang in drei Jahrzehnten. Das liegt jedoch auch an der Umstellung auf die Elektromobilität, die viele Käufer noch abwartend beobachten.
Auf diese Unsicherheit springt die US-Ratingagentur S&P auf, indem sie vor "gewaltigen" Schulden warnt, die vor allem Chinas Lokalregierungen angehäuft haben. Das Risiko, das daraus entsteht, ist geringer als es auf den ersten Blick aussieht, denn Chinas gesamte Staatsverschuldung bleibt im internationalen Vergleich niedrig. Die meisten Schulden liegen bei Staatsunternehmen, die Kredite von chinesischen Banken bekommen haben. Auslandsschulden hat China kaum. Ein großer Unterschied zu Ländern wie Thailand und Südkorea, als diese 1998 in die Asienkrise schlitterten. Japan ist mit sehr viel höheren Binnenschulden schon seit Jahrzehnten stabil.
Hausgemachte Ursachen des Rückgangs
Die Gründe für Chinas gebremstes Wachstum sind vor allem hausgemacht und dadurch leichter kontrollierbar: Peking geht seit zwei Jahren immer stärker gegen Schattenbanken vor und arbeitet verstärkt daran, seine Schulden zu verringern. Das bremst das Wachstum, macht das Finanzsystem aber langfristig stabiler. Hinzu kommt: Das bevölkerungsreichste Land der Erde befindet sich noch immer im Umbau von einer herstellenden Exportwirtschaft zu einer serviceorientierten Binnenwirtschaft.
Der Handelsstreit ist dabei eine Belastung, aber keine, die China in die Knie zwingen wird. Die Kommunistische Partei muss das Wachstum mit neuen Infrastrukturprojekten im In- und Ausland am Laufen halten. Weitere Finanzierungshilfen für kleine und mittelständische Unternehmen, niedrigere Zinsen für Kredite sowie steuerliche Entlastungen für die Exportindustrie sind wahrscheinlich. Das kostet den Staat Geld. Auch die Finanz- und Haushaltspolitik dürfte weiter gelockert werden. Die Reserveanforderungen für Großbanken wurden bereits um einen Prozentpunkt auf 14,5 und für kleinere Banken auf 12,5 Prozent gesenkt. Mehr Liquidität bedeutet auch hier mehr Auftrieb für die Wirtschaft. Damit will Peking die Belastungen des Handelskriegs abfangen.
Balance-Akt
Wachstum und Schuldenabbau auszubalancieren ist nicht einfach. Doch Peking weiß, dass die Grundvoraussetzungen gut sind. Yi Gang, der Gouverneur der Zentralbank, erklärte dann auch, dass Chinas Börsenabschwung der vergangenen Wochen eine Überreaktion darstelle und das Wachstumspotenzial des Landes weiterhin "extrem stark" sei.
Guo Shuqing, Chinas leitender Bankenaufseher, pflichtete ihm bei: Die Schwankungen stünden "mit den Fundamentaldaten der chinesischen Wirtschaftsentwicklung nicht in Einklang". Das klingt nach Durchhalteparolen, ist aber eine durchaus realistische Einschätzung.
In den vergangenen 25 Jahren ist es schon 17-mal vorgekommen, dass Chinas Börsen über einen längeren Zeitraum mehr als zehn Prozent verloren haben. Man darf dabei nicht vergessen: Das Vermögen von Chinas wachsender Mittelschicht steigt weiter an - und das mit zweistelligen Raten. Auch wenn das Gesamtwachstum sich weiter abschwächt, bleibt dieser Trend bis auf weiteres ungebrochen. Es muss Peking jedoch gelingen, der immer reicher werdenden Bevölkerung eine größere Diversifizierung ihres Vermögens zu ermöglichen.
Chinesische Bürger suchen Anlagemöglichkeiten
Viele Chinesen, von denen nicht wenige als erste seit Generationen zu Wohlstand gekommen sind, versuchen ihr Geld ins Ausland zu schaffen um es dort breiter zu streuen. In diesem Zusammenhang ist wahrscheinlich auch die Festsetzung einer Mitarbeiterin der Schweizer UBS-Bank Ende vergangener Woche zu sehen. Die Kapitalausfuhrkontrollen sind in China äußerst streng. Pro Kopf darf ein Chinese nur 50.000 US-Dollar jährlich ausführen. Peking möchte verhindern, dass hohe Summen über ausländische Vermögensverwalter wie UBS das Land verlassen und so der chinesischen Wirtschaft entzogen werden. Chinesen sollen in China investieren, lautet die Devise. Die Chinesen fragen sich jedoch: wo? Die Börse ist eingebrochen. Der Immobilienmarkt ist heiß gelaufen.
Es gibt also viel zu beraten, wenn die Führung im Dezember in Peking zusammenkommt um die Strategien für das nächste Jahr festzulegen. Das Gesamtjahresziel von 6,5 Prozent für 2018 wird China aller Voraussicht nach erreichen. Welche Auswirkungen der Handelsstreit mit den USA auf die chinesische Konjunktur hat, werden wir erst in den nächsten Quartalen sehen können. Allerdings steht zuvor noch ein weiteres wichtiges Treffen an: Ende November wollen US-Präsident Donald Trump und Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping am Rande des G20-Treffens in Argentinien über den Handelskonflikt diskutieren. Gut möglich, dass das Problem dann schon wieder aus der Welt ist und die Chinesen wie zuvor auf hohem Niveau investieren und konsumieren. Denn: Während die Einkommen und Vermögen in den Industrieländern stagnieren, ist in China noch viel Spielraum nach oben.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.