Die Geschichte der bedeutendsten Ausstellung der Welt.
9. Juni 2012Zehn Jahre nach Kriegsende blühten Geranien und Primeln in Kassel. Die Bundesgartenschau sollte etwas Farbe in das zerbombte nordhessische Provinzstädtchen bringen. Wer damals nach Kassel fuhr, bekam aber nicht nur die aktuellen Trends der Gartengestaltung zu sehen. Die Bundesgartenschau wurde nämlich von einer Kunstausstellung begleitet: der ersten Documenta. Dass diese bald als Leuchtturmprojekt der Kunst Geschichte schreiben sollte, war zunächst nicht abzusehen. Erstmal sollten es nur ein paar Skulpturen sein, die die Bundesgartenschau ergänzten. Doch dann gründete der Künstler Arnold Bode einen Verein, trieb 379.000 DM auf und stellte 670 Kunstwerke aus.
Vergangenheitsbewältigung
"Die Documenta 1 war ein Rückblick auf die Kunst vor dem Zweiten Weltkrieg", erinnert sich Manfred Schneckenburger, der als einziger Deutscher zweimal zum Chefkurator der Weltkunstausstellung berufen wurde. "Es war die Zusammenfassung dessen, was die Deutschen jahrelang nicht sehen konnten, weil es 'Entartete Kunst' genannt wurde."
Arnold Bode, im Dritten Reich als Künstler selbst mit einem Berufsverbot belegt, rehabilitierte die von den Nationalsozialisten verfemte Avantgardekunst im vom Krieg gezeichneten Museum Fridericianum: Wilhelm Lehmbruck, Oskar Schlemmer, Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner und viele andere heute klangvolle Namen waren vertreten. Die Documenta bezeichnete sich zwar als internationale Ausstellung, nahm aber insbesondere deutsches Kunstschaffen ins Visier. "Das war eine Retrospektive, die nach vorne sah, aber noch nicht in der Gegenwart angekommen war", erklärt Schneckenburger.
Unvorteilhafte Randlage
Wie sollte sie auch? 1955 war für Kassel wirtschaftlich eine Stunde Null. Die Idee, ausgerechnet in der Provinz eine große Kunstausstellung einzurichten, hatte mit der besonderen Situation der Stadt zu tun. Das Wirtschaftswunder schien an Kassel vorbei gegangen zu sein. Es herrschte hohe Arbeitslosigkeit. 80 Prozent der Gebäude und der Infrastruktur lagen in Trümmern, zerstört im Zweiten Weltkrieg. Zudem hatte der Eiserne Vorhang die Stadt von der Mitte Deutschlands ins Abseits verbannt. Arnold Bode gelang eine Sensation. Er entwickelte aus der Idee der Standortförderung durch Kunst ein Konzept, das bis heute die nordhessische Stadt alle fünf Jahre zum Nabel der Kunstwelt macht. Viermal war Bode für die Auswahl der Exponate zuständig.
Meilenstein: Documenta 5
Dann übernahm erstmals ein anderer Kurator die Auswahl. "Der Schweizer Harald Szeemann setzte 1972 die Gegenwartskunst mit all ihren Brüchen und Problemen in Szene", sagt Manfred Schneckenburger, der sich noch gut an die "anarchische" Ausstellungsarchitektur erinnert. Zum ersten Mal gab es ein Thema: "Befragung der Realität - Bildwelten heute". Aufsehen erregte etwa "Das Büro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung", in dem Joseph Beuys 100 Tage lang mit Besuchern über die Frage diskutierte, wie sich direkte Demokratie gestalten und realisieren lässt. "Calling German Names" nannte James Lee Byars seine legendäre Aktion. Vom Portikus herab rief er nach Gutdünken die Besucher beim Vornamen. Auch Aktions- und Konzeptkunst von anderen amerikanischen Künstlerstars bekamen ein Forum auf der 'd5' von Harald Szeemann. Er sorgte dafür, dass die Gegenwartskunst in Kassel zur festen Größe wurde.
Bestandsaufnahme Medienkunst
Jede Documenta versucht, sich neu zu erfinden. Manfred Schneckenburgers sechste Ausgabe von 1977 gilt als "Medien-documenta", weil sie Videokunst und Fotografie in den Mittelpunkt stellte. "Sie hat nicht nur nachgeholt, was in der Fotografie und der Videokunst bis dahin geschehen war, sie hat der Fotografie und der Medienkunst überhaupt erst ihren Platz in der Kunst gesichert." Erstmalig präsentierte Schneckenburger auch die Kunst der DDR.
Legendär auf der Documenta 7: Joseph Beuys pflanzte 7.000 Eichen. "Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung lautete sein Beitrag, der erst fünf Jahre später, vollendet war. Nämlich zur Documenta 8, die erneut von Manfred Schneckenburger geleitet wurde. "Die 'd8' war eher traditionell. Sie arbeitete die vorangegangenen fünf Jahre auf - mit einzelnen Rückblicken", erzählt er. Dass Schneckenburger und seine Vorgänger einen Schwerpunkt vor allem auf Europa legten, hat nicht nur mit dem Kalten Krieg zu tun. "Damals gab es kein Internet, man konnte sich nicht überall mit Informationen bedienen wie heute."
Global statt lokal
Es dauerte bis 2002, bis die Documenta Kunst anderer Erdteile in den Mittelpunkt rückte. Der künstlerische Leiter der documenta 11, Okwui Enwezor, geboren in Nigeria und aufgewachsen in den USA, untersuchte die Folgen von Kolonialismus in Asien, Afrika und Lateinamerika. Er eröffnete sogenannte Plattformen, um die Kunst raus aus Kassel in die Welt zu bringen: nach Lagos, Neu-Delhi oder Wien. Noch weiter zieht Carolyn Christov-Bakargiev, die Kuratorin der dOCUMENTA (13), ihren Radius. Künstler aus 50 Ländern nehmen teil. Gefunden hat sie sie in der australischen Wüste genauso wie am Nordpol.
Zwischen 1955 und 2013 liegt viel Zeit. Kommerz und Eventkultur haben inzwischen den Kunstbetrieb fest im Griff. Trotzdem könne die Documenta im weltweiten Reigen aus Biennalen, Messen und anderen Großausstellungen ihre Bedeutung behaupten, ist Manfred Schneckenburger überzeugt. "Solange sie Menschen für zeitgenössische Kunst begeistern kann, hat sie nicht nur ihren Zweck erfüllt, sondern auch ihren Stellenwert als bedeutendste Ausstellung der Welt unter Beweis gestellt."