"Sie wollen Religion instrumentalisieren"
4. November 2016Im bevölkerungsreichsten muslimischen Land Indonesien sind etwa 50.000 radikale Sunniten auf die Straßen gegangen. Sie wollen verhindern, dass der amtierende Gouverneur von Jakarta, Basuki Tjahaja Purnama, besser bekannt als "Ahok", im Februar 2017 wiedergewählt wird. Der Gouverneur ist chinesischer Abstammung und Christ. Angeblich hatte er islamkritische Äußerungen gemacht und damit öffentliche Empörungen ausgelöst. Ahok wurde nicht ins Amt gewählt. Er rückte als ehemaliger Vizegouverneur auf, nachdem der damalige Gouverneur Joko Widodo, Rufname Jokowi, im Oktober 2014 zum Staatspräsidenten gewählt wurde.
Deutsche Welle: Was werfen die Demonstranten dem amtierenden Gouverneur von Jakarta konkret vor?
Ulrich Delius: Sie werfen ihm Blasphemie vor. Es geht um eine Veranstaltung vom September dieses Jahres, von der es einen Videomitschnitt gab, der über die sozialen Medien verbreitet wurde. In dem Video macht sich Ahok über einen Koranvers lustig. Darin heißt es, dass sich Muslime nicht von einem Nicht-Muslim führen lassen sollten. Da er selber Christ ist, hat er Bezug auf diesen Vers genommen. Das ist von einer Reihe von Sunniten sehr kritisch kommentiert worden. Der Gouverneur hat sich später dann dafür entschuldigt und gesagt, das Zitat sei aus dem Zusammenhang gerissen. Im Grunde steckt aber eine größere Agenda dahinter.
Inwiefern?
Der Gouverneur ist schon seit Längerem umstritten, insbesondere bei konservativen sunnitischen Muslimen. Sie sind gegen ihn, weil er als Christ nicht nur der falschen Religion angehöre, sondern auch den falschen politischen Kurs verfolge. Diese beiden Ebenen, die politische und die religiöse, überlagern sich. Im Ergebnis aber führt das dazu, dass er als Christ ausgegrenzt werden soll.
Der Staat bot 18.000 Polizisten und sogar Spezialkräfte der Militärs auf, um die Sicherheit bei der Großdemonstration zu gewährleisten. Eine angemessene Reaktion?
Die Situation ist alarmierend. Auf der einen Seite bemühen sich die Behörden darum, die Gefahr herunterzuspielen. Sie sagen, der Staat sei nicht in Gefahr, rufen zu Gelassenheit auf und warnen davor, die Sache aufzubauschen. Auf der anderen Seite zeigt das Polizeiaufgebot, dass die Regierung und Staatspräsident Jokowi das Ganze genau beobachten. Sie sehen, dass es vonseiten extremistischer Sunniten Anstrengungen gibt, den Diskurs zu radikalisieren und politische Fragen zu lösen, indem sie die Religion instrumentalisieren. So gesehen ist es sicherlich angemessen, mit einem großen Polizei- und Sicherheitsaufgebot zu reagieren.
Ich sehe es allerdings sehr kritisch, wie dann vonseiten der Sicherheitskräfte agiert wird. Sie versuchen um jeden Preis, den sunnitischen Extremisten entgegenzukommen. Wenn zum Beispiel die Polizei muslimische Gesänge anstimmt, um die Demonstranten zu beruhigen, dann frage ich mich schon, wie steht es eigentlich um den säkularen Staat Indonesien? Und wo bleiben da die Schiiten, die Ahmadiyya (eine islamische Sondergemeinschaft, Anm. d. Red.), die Christen und all die anderen religiösen Minderheiten?
Sehen Sie die Demonstrationen als Anzeichen einer fortschreitenden Radikalisierung von Teilen der muslimischen Bevölkerung in Indonesien?
Die Demonstrationen sind in jedem Fall ein Zeichen dafür, dass der moderate Islam in Indonesien auf dem Rückzug ist. Das haben übrigens auch schon die Diskussionen im Vorfeld der Demonstration gezeigt. Wenn Sie sich die indonesischen Medien in den letzten Tagen anschauen, dann war und ist die Großdemonstration das dominante Thema. Das fragwürdige Blasphemieverfahren, das trotzdem vielleicht Erfolg haben könnte, zeigt, dass sich die Regierung dem Druck der extremistischen Sunniten beugt. Das ist eine große Gefahr.
Indonesien stand lange Zeit für einen moderaten Islam und wurde dafür gepriesen. Aber genau das droht jetzt verloren zu gehen, wenn die sunnitischen Extremisten zumindest in der öffentlichen Debatte immer mehr Raum einnehmen.
Was unternimmt die Regierung, um radikalen Strömungen in Indonesien Einhalt zu gebieten?
Nichts! Es gibt auch keine gesetzlichen Veränderungen, so dass man sagen könnte, die Regierung ginge jetzt gegen den Extremismus vor. Im Grunde genommen nimmt sie ihn einfach hin.
Gegenüber dem Ausland betont sie dann allerdings gerne, dass Indonesien nach wie vor für Religionsfreiheit eintrete. Aber die Realität vor Ort in den Gemeinden, wo sunnitische Extremisten gegen christliche Kirchenbauten, gegen Moscheen muslimischer Minderheiten Stimmung machen, zeigt, dass die Regierung wenig unternimmt. Und es ist keineswegs damit getan, einige Polizisten vor eine Moschee oder eine Kirche zu stellen. Es fehlt letztlich an einer öffentlichen Diskussion in Indonesien, wie die Gesellschaft mit Religionsfreiheit umgehen will.
Es entsteht der Eindruck, dass die indonesische Regierung immer auf die sunnitischen Extremisten schielt, um möglichst wenig Angriffsfläche für Kritik von dieser Seite zu bieten. Dabei ist es der Regierung dessen nicht bewusst, dass sie es diesen sunnitischen Extremisten nie recht machen kann. Die haben eine ganz andere Vorstellung von einem Staat, der eben nichts mit Demokratie und Religionsfreiheit zu tun hat.
Ulrich Delius ist Asienreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker.