Serbien nach den Wahlen: Ein Land im Dauerprotest
29. Dezember 2023"Ich werde weiterhin kommen, trotz der Feiertage", sagt eine Studentin, die sich durch die kleine Menge im Zentrum von Belgrad bewegt. Viele Mitdemonstranten haben am Freitag auch Schlafsäcke und Decken mitgebracht.
Die Straßenblockade soll 24 Stunden lang dauern - bis zum großen angekündigten Protest am Samstag. "Wir wollen ordentliche Wählerregister und neue Wahlen unter fairen Bedingungen. Ich hoffe, dass noch viele Menschen auf die Straße gehen", sagt die Studentin der DW.
Ob die Wünsche in Erfüllung gehen, ist mehr als fraglich. Zwar gibt es täglich kleinere Proteste in Belgrad, aber die große Masse der Menschen in der serbischen Hauptstadt bleibt zuhause. Nur wenige glauben, dass sich durch Proteste etwas ändern ließe.
"Hunger auf Freiheit"
"Für 99 Prozent der Menschen sind die Wahlen vorbei", sagt der Politologe Boban Stojanovic. Man bereite sich auf Silvester und das orthodoxe Weihnachtsfest Anfang Januar vor.
Das proeuropäische Oppositionsbündnis "Serbien gegen Gewalt", bei den Wahlen am 17. Dezember zur zweitstärksten Kraft aufgestiegen, versucht hingegen weiterhin öffentliches Interesse zu wecken. Auch mit drastischen Mitteln.
Insgesamt sieben Politiker traten in einen Hungerstreik, den manche aus gesundheitlichen Gründen bereits abbrechen mussten. Am längsten harrt Marinika Tepic aus, eine der bekanntesten Gesichter der Opposition.
Sie hungert seit zwölf Tagen und bekommt mittlerweile Infusionen. "Ich habe nur Hunger auf Freiheit und auf Gerechtigkeit", sagt sie.
Opposition fordert Neuwahlen
Besonders Belgrad kommt nicht zur Ruhe. Die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) des allmächtigen Präsidenten Aleksandar Vucic hat wieder einen Erdrutschsieg eingefahren - durch massiven Betrug, behauptet die Opposition, und fordert Neuwahlen.
Dabei geht es vor allem um die symbolisch wichtige Wahl in der Hauptstadt Belgrad. Dort kommen die SNS und ihre mitregierenden Sozialisten auf genau die Hälfte der 110 Sitze. Sie brauchen nur noch einen Abgeordneten, um weiter regieren zu können.
Ein möglicher Koalitionspartner ist das Überraschungsgesicht der Wahlen, der umstrittene Arzt und Verschwörungstheoretiker Branimir Nestorovic, dessen Bewegung "Wir - Die Stimme aus dem Volk" (MI-GIN) auf sechs Sitze in Belgrad kam.
Angeblich Zehntausende "Phantomwähler"
"Wir sind uns sicher, dass die Wahlen in Belgrad manipuliert worden sind", sagte Rasa Nedeljkov, der Programmdirektor der Beobachtungsmission CRTA. Es gehe um Stimmenkäufe, Druck auf Wähler, vor allem aber um eine massive Fälschung der Wählerregister, so Nedeljkov zur Belgrader Wochenzeitung Vreme.
So berichtet CRTA zum Beispiel, dass in einer einzigen Belgrader Wohnung - 58 Quadratmeter groß - 40 Wähler angemeldet waren. Solche Fälle gebe es massenweise.
Auch die Opposition beharrt darauf, dass bei den Parlaments- und Kommunalwahlen am 17. Dezember Zehntausende Wähler aus anderen Städten oder aus der benachbarten Republika Srpska in Bosnien nach Belgrad kutschiert worden seien, um der SNS dort einen Sieg zu ermöglichen.
"Es gab zehntausende solcher 'Phantomwähler', die gar nicht in Belgrad wohnen. Ein Drittel von denen hat dann tatsächlich gewählt und somit das Ergebnis entscheidend beeinflusst", sagt eine Quelle der DW aus der Belgrader Wahlkommission.
Laut serbischem Gesetz ist es den Staatsbürgern möglich, sich umzumelden und am neuen Wohnort sofort wählen zu gehen. Wenn es aber um Scheinadressen geht, ist das ein Fall für Polizei und Staatsanwaltschaft.
Ein serbischer "Maidan"?
Die Opposition wirft der serbischen Justiz mangelnde Unabhängigkeit vor. Sie befände sich - genau wie die meisten Medien, öffentliche Arbeitgeber und Oligarchen - an der kurzen Leine des Präsidenten Aleksandar Vucic.
Dieser regiert Serbien seit mehr als sechs Jahren mit eiserner Hand. In fast täglichen Fernsehmonologen spricht er von Wirtschaftserfolgen und beschimpft die Opposition und die wenigen noch vorhandenen kritischen Medien.
Vucic selbst stand nicht zur Wahl - und dennoch drehte sich alles um ihn. Der Präsident beschuldigt die Opposition, das Land im Auftrag westlicher Staaten destabilisieren zu wollen. Boulevardblätter auf seiner Linie behaupteten, die Opposition plane eine "bunte Revolution", einen "Maidan" wie in der Ukraine 2014.
Insbesondere Deutschland wird verdächtigt, hinter den Protesten zu stehen. Das Auswärtige Amt nannte die Geschehnisse am Wahltag "inakzeptabel für ein EU-Kandidatenland" und berief sich dabei auf einen kritischen Bericht der OSZE-Beobachter.
Anerkennung vom US-Botschafter
Während europäische Politiker Kritik üben, kam Unterstützung für Präsident Vucic nicht nur aus Moskau. Auch der amerikanische Botschafter in Belgrad schlug versöhnliche Töne an: "Ich bin zuversichtlich, dass die serbische Demokratie durch diese Herausforderungen gestärkt wird", schrieb Christopher Hill auf der Plattform X (ehemals Twitter).
Alle serbischen Bürger hätten ein Recht darauf, gehört zu werden. Gleichzeitig seien sie dafür verantwortlich, ihre politischen Überzeugungen friedlich und ohne Gewalt zu demonstrieren.
Die aktuelle Protestwelle für Neuwahlen ist für Vucic nichts Neues. Im Frühling gab es nach zwei blutigen Amokläufen in Serbien historisch große Demonstrationen. So entstand auch die oppositionelle Koalition "Serbien gegen Gewalt".
Doch Vucic ließ bisher noch jede Protestwelle an sich abperlen. So könnte es auch diesmal sein, sagt Zoran Stojiljkovic, der an der Belgrader Fakultät für politische Wissenschaften lehrt.
"Für einen Erfolg braucht es die Synergie dreier Faktoren: einen oppositionellen Zusammenhalt, Energie und Ausdauer der Demonstrationen und Druck auf Vucic aus dem Ausland", so Stojiljkovic gegenüber der DW.
Derzeit sieht es nicht danach aus. Viele Beobachter vermuten, dass Vucic "ein Zeichen des guten Willen" gegenüber der EU setzen wird - nämlich die Wahlen in Belgrad wiederholen zu lassen, weil dort angeblich keine Mehrheit zu finden ist.
Danach, fürchten viele, komme der nächste Wahlbetrug.