1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Serbien: Eine Gesellschaft mit zu vielen Geheimnissen

8. Juni 2009

In einigen Ländern des früheren Ostblockes hat die Veröffentlichung von Geheimdienstdossiers bei der Vergangenheitsbewältigung geholfen. In den meisten Ländern des früheren Jugoslawiens ist das aber nicht geschehen.

https://p.dw.com/p/HXcq
Papierschnipsel (Foto: dpa)
Viele Akten haben nicht überlebtBild: dpa

Wie viele Dossiers Titos Geheimpolizei UDBA (Uprava drzavne bezbednosti – Verwaltung für Staatssicherheit) zusammengestellt hat, das weiß heute niemand mehr zuverlässig. Während einer Überprüfung der Archive im Jahr 1969 hat man 9620 laufende Meter Ordner registriert, davon waren etwa 5500 Meter schon damals zerschreddert. Immerhin sind aber etwa 600.000 Akten übrig geblieben.

Als Anfang der neunziger Jahre Jugoslawien zerfiel, bedienten sich viele in den Archivkellern des Geheimdienstes. Agenten, die die Seiten wechselten, nahmen mit, was sie brauchten. Der größte Teil fiel aber in die Hände des serbischen Geheimdienstes DB (Drzavna bezbednost – Staatssicherheit). Obwohl man diese Akten später teilweise in den Keller des serbischen Archivs verlegt hat, kann doch von einer wirklichen Öffnung des Geheimarchivs keine Rede sein, sagt Rodoljub Sabic, Beauftragter der serbischen Regierung für Informationen von öffentlicher Bedeutung: "Die Dokumente wurden buchstäblich bloß dahin gebracht", kritisiert Sabic. "Das war keine ordentliche Übergabe, weder die Sicherheitsbestimmungen noch die Archivierungsregeln wurden eingehalten. Man hat nur das Problem aus dem einen in den anderen Keller verlegt."

Akte eines Regimgegners verschwunden

Josip Tito in Uniform (Archivfoto: AP)
Unter Präsident Josip Tito schnüffelte der Geheimdienst die Bevölkerung ausBild: AP

Vladimir Jesic war aktives Mitglied der revolutionären Bewegung Otpor (Der Widerstand), die maßgeblich am Sturz des früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic beteiligt war. Mehrmals wurde er in Zeiten des Milosevic-Regimes von der Polizei verhaftet. Als Milosevic nach lang anhaltenden Protesten und Massendemonstrationen am 5. Oktober 2000 durch einen Volksaufstand gestürzt wurde, wollte Jesic sehen, was in seinem Dossier steht. Durch eine Verordnung der Regierung aus dem Jahr 2001 wurde das möglich. Bloß dass seine Akte nicht mehr auffindbar war. "Als ich in die Zentrale des Geheimdienstes gegangen bin, habe ich schon erwartet, dass mein Dossier da ist", berichtet Jesic. "Ich habe mich betrogen gefühlt, der Staat hat mich wieder belogen. Ich habe gedacht, jetzt wird sich endlich zeigen, was sie gemacht haben. Ich denke, der Staat war verpflichtet, uns die Akten zur Verfügung zu stellen. Ich glaube, man hat diese Dokumente verschwinden lassen in der Zeit nach dem 5. Oktober", klagt Jesic an.

Goran Petrovic, erster Geheimdienstchef in Serbien nach dem Sturz von Milosevic, streitet dies ab: "Das ist Schwachsinn." Es habe keine 'Scheiterhaufen in Banjica' (einem noblen Stadtteil von Belgrad) gegeben, wie einige Zeitungen geschrieben hatten. "Ich habe es schon tausendmal dementiert", sagt Petrovic, "aber die Legende von den Dossierverbrennungen lebt weiter." Petrovic bestreitet auch die Behauptungen, die Akten einiger Regimegegner aus Milosevic-Zeit habe man vorsätzlich retuschiert und verändert: "Als ob ich damals 100.000 Menschen hatte, um all die Dossiers zu ändern. Und außerdem sehe ich nicht ein, warum jemand das machen würde. Es ging sowieso hauptsächlich um die Protokolle der geheim aufgezeichneten Telefongespräche. Sie sind also Journalist, und wenn Sie der innere Feind waren, wissen Sie, mit wem Sie und worüber Sie am Telefon gesprochen haben."

"Alles Interessante ist zerstört"

Anders sieht das Zoran Dragisic, Professor an der Fakultät für Politikwissenschaften in Belgrad. Er behauptet, man habe die Dossiers im großen Stil vernichtet: "Wer weiß, was alles damals bei der Staatssicherheit verbrannt worden ist, nach dem Sturz von Milosevic. Ich bin überzeugt, dass es jetzt sowieso schon zu spät ist. Wenn man jetzt die Dossiers auch öffnen würde, gäbe es nichts mehr zu öffnen. Ich glaube, dass alles Interessante zerstört ist."

Viele Politiker wollten nicht, dass ihre alten Dossiers in die Öffentlichkeit kommen, sagt Dragisic: "Ich glaube, es würde sich zeigen, dass einige Menschen, die zu Titos Zeit von sich behaupteten, große Demokraten und Dissidenten zu sein, in Wirklichkeit Mitarbeiter des Geheimdienstes waren."

Geheimdossiers hatten keine Priorität

Demonstration gegen Milosevic 2000 (Foto: dpa)
Demonstration gegen Slobodan Milosevic - verschwanden nach seinem Sturz Geheimdienstakten?Bild: picture-alliance / dpa

Zarko Korac, stellvertretender Ministerpräsident in der ersten Regierung nach Milosevic, erinnert daran, dass damals, im Januar 2001, die Geheimdossiers keine Priorität hatten – man hatte viel Dringenderes zu tun: "Die Regierung von Zoran Djindjic hatte große Probleme, und Serbien war damals in noch größerem Chaos als es heute ist. Es war kalt, wir hatten keinen Strom. Unsere erste Bitte an den Westen war: liefert uns Strom."

Korac ist aber davon überzeugt, dass es jetzt immer noch nicht zu spät ist, eine Kommission zu gründen, die die Machenschaften der Geheimdienste unter die Lupe nehmen würde. Dazu gehöre auch die Öffnung der Archive.

Verflechtung zwischen Politik, Geheimdiensten und Kriminellen

Für Rodoljub Sabic, den Beauftragten der serbischen Regierung für Informationen von öffentlicher Bedeutung, ist das ungeklärte Schicksal der Geheimdienstakten ein weiterer Beweis dafür, dass es in Serbien immer noch viel zu viele Geheimnisse gibt. "Wir sollten begreifen, dass die Geheimniskrämerei ein großes Problem darstellt, denn dahinter verbergen sich oft kriminelle Machenschaften, Missbrauch, Korruption", diagnostiziert Sabic. "Wir müssen den Potentialen, die eine funktionierende Öffentlichkeit mit sich bringt, eine Chance geben."

Welche Gefahren die undurchsichtige Verflechtung zwischen der Politik, den Geheimdiensten und der organisierten Kriminalität mit sich bringt, zeigt auch die noch junge demokratische Geschichte Serbiens. Der erste demokratisch gewählte Regierungschef, Zoran Djindjic, wurde nach nur zwei Jahren Amtszeit, im März 2003, durch ein Attentat getötet. In die Ermordung waren auch die "Roten Baretten", eine Eliteeinheit des Staatssicherheitsdienstes, involviert.

Autor: Dinko Gruhonjic

Redaktion: Stefan Dietrich